Die Spur der Zugvoegel - Muensterlandkrimi
seine Reiseunfähigkeit.«
»Ist er denn plötzlich gesund?«
»Nein. Aber reisefähig. Sagt die Piotrowsky.«
»Weshalb war er das nicht, bevor der neue Amtsleiter eingesetzt wurde?« Julia hatte mitbekommen, dass es einen Wechsel in der Leitung der Behörde gegeben hatte.
»Ach, Mann, Julia …«
»Wie kommt Conrad überhaupt dazu, das zu ermitteln?« Hatte man nichts anderes zu tun, wenn man gerade wieder bei Verstand war?
»Er war sauer. Wenn die Chalids abgeschoben werden und der Junge nicht aus dem Koma aufwacht, sieht es schlecht aus für die Ermittlungen. Conrad will aber schon wissen, wer ihn da auf den Asphalt geschickt hat. Fels sagt nichts dazu. Ich denke ja, Conrad sollte erstmal ‘ne Pause machen.«
»Aber die können die doch jetzt nicht abschieben. Rasid ist minderjährig.« Wer weiß, was die Familie erwartete, fügte sie für sich hinzu und dachte an die Aufzeichnungen ihres Großvaters. Sie zog sie aus der Tasche und las. Den letzten Satz: Die Grenzen sind zu. Für die Chalids auch, von außen.
»Die Mutter bleibt. Für den Vater geht morgen der Flieger.«
»Das ist nicht richtig«, sagte sie hilflos.
»Julia, du nervst.«
»Ach, ja? Was würdest du denn …«, brauste sie auf und wurde unterbrochen.
»Hör zu. Ich wollte dir nur sagen, dass Conrad okay ist.« Es klickte und Sven war fort.
»Alles in Ordnung mit Ihnen, Frau Morgenstern?« Bayers Stimme kam vom anderen Ende der Welt.
»Das ist nicht richtig«, wiederholte sie. Bayer zog die Brauen hoch. Sie erzählte es ihm.
»Sie haben Schweigepflicht«, versicherte sie sich vorsichtshalber, nachdem sie geendet hatte.
»Versteht sich von selbst.« Er hatte sich in den Sessel gesetzt und aufmerksam zugehört. »Mir ist Ihr Problem nicht ganz klar«, sagte er und hob die Hand, als Julia etwas erwidern wollte. »Es gibt doch sicher klare gesetzliche Regelungen, wie in solchen Fällen verfahren wird, oder?«
»Muss ich deshalb damit einverstanden sein?«
»Nicht als Privatperson, als Polizistin wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben. Ein Dilemma, das sehe ich ein.«
»Und was soll ich jetzt tun?«
»Sie? Was wollen Sie denn tun?« Er lehnte sich zurück und wartete.
»Es ist nicht mein Fall.«
»Eben.«
»Aber es ist nicht richtig.«
»Nein, vielleicht nicht. Aber was hat das mit Ihnen zu tun? Warum ist Ihnen das so wichtig?«
Ja, was hatte das eigentlich mit ihr zu tun? Draußen war es inzwischen dunkel geworden, es regnete immer noch.
»Es wäre alles anders gekommen, wenn sie ausgereist wären. Damals.« Julias Blick folgte den Tropfen, die langsam die Scheibe herabrannen.
»Das heißt was?«
Sie riss sich von den Tropfen los und sah Bayer ins Gesicht. »Ich habe die Aufzeichnungen meines Großvaters gefunden, einige davon. Mutter wollte nicht, dass ich sie lese. Wir reden nicht darüber. Aber Großmutter hat mir einiges erzählt. Und wenn sie ausgereist wären, wäre ich in New York zur Welt gekommen.«
»Sie?«
»Nein, vielleicht nicht ich, weil ich dann eine andere wäre.«Weil dann Mutter Vater nicht getroffen hätte, weil dann die ganze Geschichte eine andere wäre. An der Stelle wurde es unübersichtlich. Also war alles gut so, wie es war? Sie legte die Seiten mit Isaaks Aufzeichnungen auf den Tisch, das Papiervergilbt, die Tinte verblasst.
»Ich wollte. Schon lange. Aber ich habe es nicht gelesen.« Auf Julias Hose klebte ein Fussel. Sie ließ ihn da.
»Aha.« Bayer wartete. »Dann lesen Sie es jetzt, wenn Sie es deshalb mitgebracht haben.« Er streckte die Beine aus und schwieg.
Mit zitternden Händen und unsicherer Stimme begann Julia.
Leipzig, 30. Juni 1941
Es ist vorbei. Sie haben die Simons abgeholt. Die kleine Klara hat geweint. Ich konnte nichts tun, als am Fenster stehen und hilflos zusehen, wie diese Männer, die sich Schutzpolizisten nennen, sie in den Wagen drängten, zusammen mit der alten Frau Baumann und ihrem Heinrich. Sie haben dem Jungen ihre Knüppel über den Kopf gezogen, weil er nicht schnell genug war, dabei konnte er doch gar nicht mit seinen verkrüppelten Beinen. Ich muss Johanna sagen, dass ich weg muss. Sie werden mich bei ihr finden. Ich will nicht, dass ihr etwas passiert. Ich muss weg! Nur wohin? Ich hätte viel früher gehen müssen. Goldstein hat es begriffen, und ich habe ihn ausgelacht und einen ewigen Pessimisten und Schwarzmaler genannt. Wenn ich heute an den Abend in Auerbachs Keller denke, frage ich mich, in welchem Leben das gewesen ist. Es kommt mir unendlich
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