Die Spur der Zugvoegel - Muensterlandkrimi
ist mit dem Rad nach Hause, kaum konnte er wieder einigermaßen auf seinen Beinen stehen. Kennst ihn ja. Irgendwie muss er es sich doch überlegt haben und ist in die Ambulanz, um die Platzwunde nähen zu lassen. Sie wollten ihn natürlich dabehalten. Aber er wollte nicht. Unten in der Halle ist er umgekippt. Muss so um Mitternacht gewesen sein.« Sven setzte sich in einen der Besucherstühle, stand wieder auf und setzte sich wieder. Er schwieg mitmahlenden Kiefern und betrachtete den gepunkteten Bodenbelag.
»Und? Weiter?« Conrad war manchmal echt ein Idiot. Musste er den Harten raushängen lassen, statt sich einmal etwas sagen zu lassen, wenigstens von den Docs? Aber das machten sie alle. Taten so, als prallte der ganze Scheiß an ihnen ab. Die Schutzpolizei war noch schlimmer. Bei denen konnte sich keiner etwas erlauben, was die anderen als Schwäche verstanden hätten. Wir sind eine große, glückliche Familie. Und: Wir sind die Guten. Einer von ihnen hatte sich im letzten Jahr erschossen, vier Wochen später noch einer. Die Anzahl der Suizide läge nicht höher als in der Gesamtbevölkerung, sagte der Polizeiarzt. Julia mochte ihn nicht.
»Die Eltern von dem Jungen haben wir noch nicht erreicht. Wir wissen nicht einmal, wie er heißt. Fünfzehn vielleicht. So ein Kind müssen die doch vermissen.« Ruckartig hob Sven den Kopf. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und die Nase stach spitz aus dem Gesicht. »Komm, lass uns reingehen.«
Julia drückte die Klingel. Es dauerte einige Minuten, bis eine Schwester, die die blaue Arbeitskleidung zu sprengen drohte, den Gang entlanggestapft kam. Sie öffnete die Glastür und sah sie fragend an.
Sven hielt ihr seinen Dienstausweis unter die Nase und stellte sie vor. »Wir wollen zu Conrad Böse.«
Die Schwester zog die Brauen zusammen. »Mit ihm können Sie im Moment nicht sprechen.«
»Ja«, sagte Sven. »Ich weiß. Wir wollen trotzdem zu ihm. Und zu dem Jungen, der gestern niedergeschlagen worden ist.«
»Name?« Zerberus blockierte die Tür.
»Wie lange sind Sie schon im Dienst? Seit eben? Ansonsten müssten Sie wissen, dass er noch nicht identifiziert werden konnte.«
»Was wollen Sie von ihm?«
Julia ging die Dicke gehörig auf die Nerven. »Wir wollen sie sehen. Beide.«
Immer noch wich die Schwester keinen Zentimeter. »Nur Verwandte«, sagte sie.
»Hören Sie.« Julia holte Luft. So einen Mist hatte sie noch nie erlebt. Die Polizei bekam immer Zutritt. »Der Junge wird seine Verwandten kaum sehen, wenn wir sie nicht ermitteln. Und Herrn Böses Mutter ist noch nicht informiert.« Sie warf einen Seitenblick auf Sven. Der nickte. Bisher hatten sie es der alten Dame erspart, um sich zunächst selbst einen Eindruck zu verschaffen. Julia war froh, dass Ostendarp zu Conrads Mutter auf den Kotten gezogen war. Sie mochte die unverblümte, von einem prinzipiellen Wohlwollen getragene Art des pensionierten Kollegen. Er würde die richtigen Worte finden, um Maria Böse mitzuteilen, was ihrem Kind widerfahren war.
»Helga. Los, wir müssen die Drei betten. Den Fetten krieg ich alleine nicht«, rief eine kleine Drahtige und kam mit einem Wäschestapel bepackt auf sie zu. »Oh.« Sie fing sich schnell wieder und fragte:»Was gibt’s, Helga?« Dabei sah sie von einem zum anderen, und Helga zischte eine Erklärung.
»Dann lass sie halt rein. Der Doc kommt eh gleich. Dann kann der sich mit denen auseinandersetzen.«
Mit unbewegtem Gesicht öffnete Helga eine Seitentür und führte sie in die Schleuse, in der sie Schutzkleidung anlegen konnten. Sven musterte Julia. »Du hast schon hübschere Kleider getragen.«
Julia ließ ihren Blick an ihm hinabwandern. »Du auch.«
Sie folgten Helgas störrischem Rücken. Ohne ein Wort öffnete sie die Tür und entließ sie in ein neonhelles Zimmer, das vom leisen Schnaufen einer Beatmungsmaschine erfüllt war. Ein dunkler Schopf ragte aus den Laken, darunter ein junges, fahles Gesicht, die Lippen von der Halterung des Beatmungsschlauchs verdeckt. Im Bett daneben lag Conrad mit geschlossenen Augen, ein Pflaster auf der Stirn, darunter breitete sich ein tiefviolettes Hämatom aus. Sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Ein Infusionsschlauch führte zu seiner Ellenbeuge, an seinem Finger saß ein Clip mit rötlichem Licht, an seinem Oberarm pumpte sich gerade eine Blutdruckmanschette auf. Julia ließ sich auf einen der beiden Stühle an einem kleinen Tisch sinken und sah weg. Vor dem Fenster regnete es. Die Tür
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