Die Spur der Zugvoegel - Muensterlandkrimi
erreichten wir eine Abfahrt. Vier oder fünf Unfallwagen blockierten die Fahrbahn, dazwischen Streifen- und Rettungswagen. Ein Polizist winkte uns ungeduldig vorbei. Ich amtete auf, nachdem ich mich von der Stoßstange des Abschleppwagens gelöst hatte und eine Landstraße entlangfuhr. Kiefern und Regen. Allmählich gewöhnte ich mich daran.
23
Julia ließ den Hefter sinken und las den letzten Satz noch einmal. Diesmal hatte sie es einfach getan. Ohne Mutter, ohne Bayer, in Gedanken an Großmutter, die sich auch über einiges hinweggesetzt hatte. Soweit sie wusste, waren es die letzten Worte, die ihr Großvater je geschrieben hatte.
Es war am Ende eines verregneten Ferientages gewesen, als Johanna ihr von Isaak erzählt hatte. Julia schob die CD in den Player, auf der die Songs waren, die sie damals von einer zerkratzten Vinylplatte gehört hatten, während Mutter ausgegangen war. Johanna wiegte sich zu »I can’t give you anything but love«. Oben in ihrer Mansarde roch es nach Sauberkeit und dem letzten Rauch einer heimlichen Zigarette. Julia hatte sich in Johannas Bett gekuschelt, obwohl sie schon viel zu alt dafür war, und lauschte. Der Musik, dem Regen und dem Ungeheuerlichen. Johanna schenkte zwei Gläschen Aprikosenlikör ein und stieß mit Julia an.
»Das letzte Mal habe ich Isaak am 21. August 1943 gesehen. Wenige Stunden später ist Karl verhaftet worden. Dann konnte ich nicht mehr zu Isaak. Mir war klar, dass er nicht mehr dort bleiben würde, so oder so. Entweder erwischten sie ihn, oder er fand zuvor einen anderen Unterschlupf. Ich konnte nichts tun. Gar nichts, zu gefährlich, auch für unser Kind.« Sie schenkte nach und kippte das süße Getränk hinunter.
»Am nächsten Tag hat mir eine Freundin einen neuen Pass in die Tasche geschoben und mich in den Zug genötigt. Sie hatte Verwandtschaft in Weimar. Ich zog direkt an den Frauenplan in eine Mansarde wie hier.« Johanna sah sich um und ihr Blick haftete an einem Tag Jahrzehnte zurück. »Als Maria Steiner bin ich bei ihnen untergekommen. Nette Leute mit einem Kleingarten am Stadtrand, zu dem sie mit dem Rad fuhren. Die Freundin hatte ihnen gesagt, dass wir ausgebombt seien. Das stimmte. Aber erst im Dezember 1943.«
Das Licht nahm ab, doch Johanna schaltete keine Lampe ein, erzählte als Schattenriss vor dem helleren Fensterviereck.
»Die Ungewissheit, was aus ihm geworden war, das war das Schlimmste, dachte ich damals. Aber ich hatte wenigstens noch Hoffnung. Wenn ich wirklich gewusst hätte …«, sagte sie. Dann hörte Julia sie leise schluchzen.
Erst Jahre später hatte Johanna Isaaks Spur gefunden. Sie führte nach Theresienstadt und von da in die Gaskammer von Auschwitz. »Als Mama zur Welt kam, war er schon tot. Aber das habe ich da natürlich nicht gewusst.«
Noch ein Aprikosenlikör.
»Grete hat das Tagebuch oder vielmehr die losen Blätter, die Isaak versteckt hatte, gefunden und einer Freundin, Ruth hieß sie übrigens, übergeben können, bevor sie starb.« Wieder verstummte sie, Julia war es unmöglich, nur ein Wort zu sagen. Ruth. Wie Mutter.
»Daran siehst du, Grete war kein schlechter Mensch. Das mit Isaak ... Sie konnte einfach nicht anders. Sie hatten Karl, verstehst du?«
Julia verstand gar nichts, nicht zu diesem Zeitpunkt, noch zu einem späteren. Grete hätte Isaak nicht verraten dürfen.
»Sie wusste doch nicht, dass es ihr und auch Karl nichts nützen würde.«
»Umso mehr hätte sie das nicht tun dürfen, Johanna.«
»Nenn mich nicht immer Johanna. Ich bin deine Großmutter.« Sie stand auf und holte eine Zigarettenschachtel aus dem Buffet, fingerte eine Zigarette heraus, steckte sie umständlich in eine Spitze und zündete sie an.
»Es ging nicht um Gerechtigkeit oder so etwas, Kind. Es ging ums Überleben. Ich weiß nicht, was sie ihr alles angetan haben, bevor sie den Mund aufgemacht hat. Irgendein Dreckskerl hat mich in ihr Haus gehen sehen. Vielleicht. Ich hätte Isaak niemals besuchen dürfen. Aber da war doch … Ach, Julia. Es war einfach eine ganz andere Zeit.« Mit einem Taschentuch tupfte sie sich ihre Augen.
»Nein, Großmutter. Man muss wissen, was richtig und was falsch ist, egal in welcher Zeit«, hatte Julia damals behauptet. Inzwischen war sie nicht mehr sicher.
Sie holte eine halb volle und ziemlich betagte Flasche Aprikosenlikör aus dem Schrank und trank ein Pintchen. Seit sie erwachsen war, hatte sie immer eine Flasche davon auf Lager. Vielleicht sollte sie zu Bayer fahren und ihm
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