Die Spur des Drachen
dem Jungen allein, der weiter fegte.
Bens Handy klingelte. Rasch hielt er es ans Ohr.
»Guten Tag, Inspector«, grüßte Colonel Nabril al-Asi in seinem typischen, jovialen Tonfall. Hintergrundgeräusche verzerrten seine Stimme so sehr, dass sie nur mit Mühe zu verstehen war.
»Ich kann Sie kaum verstehen, Colonel.«
»Warten Sie einen Moment.«
Das Geräusch verstummte.
»Ist es so besser, Inspector?«, fragte al-Asi. Seine Stimme war nun klar und deutlich.
»Ja. Wie haben Sie das gemacht?«
»Ich habe meinen neuen Rasenmäher abgestellt, einen John Deere aus den Vereinigten Staaten. Allmählich finde ich mich ins häusliche Leben ein. Ich habe viel Zeit, solche Dinge zu lernen, jetzt, da meine Pflichten beschnitten worden sind. Obwohl ich Schwierigkeiten habe, die Schneidmesser zum Arbeiten zu bringen …«
»Was macht die Schaukel?«
»Funktioniert perfekt, dank Ihnen. Ich rufe nur an, weil ich wissen wollte, wie es Ihnen so geht.«
»Sehr gut, danke.«
»Ich hatte mir Sorgen gemacht, weil ich nicht erwartet hatte, Sie in Ostjerusalem zu finden. Ich nehme an, Sie sitzen in demselben Café, in dem Pakad Barnea saß, als die Schießerei anfing. Liege ich da richtig?«
Ben beugte sich vor; dann hob er die Beine zur Seite, um dem Jungen mit dem Besen Platz zu machen. »Woher wussten Sie, dass ich hier bin, Colonel?«
»Die Amerikaner haben eine bemerkenswerte Technologie, die sie befähigt, den Standort jedes Handybenutzers herauszufinden, wenn er telefoniert. Angeblich dafür entwickelt, jemanden aufzuspüren, der den Notruf gewählt hat.«
»Angeblich.«
»Tatsächlich ist es der Ableger eines weit komplizierteren Systems, bei dem Satelliten benutzt werden, um die Verfolgung terroristischer Zellen zu unterstützen. Die besitzen heutzutage schnurlose Telefone, wissen Sie.«
»Sie haben dieses System von den Amerikanern bekommen?«
»Von den Israelis, vor Beginn unseres derzeitigen Konflikts. Die Israelis wiederum haben es von den Amerikanern. Sehr nützlich, um Freunden auf der Spur zu bleiben, das muss ich schon sagen. Leider wird es nicht annähernd so nützlich sein, wenn die israelischen Freunde, die ich bis jetzt noch halten konnte, mich im Stich lassen.«
»Ich verstehe.«
»Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt. Sie bleiben mit mir in Verbindung?«
»Natürlich.«
»Gut.« Ben hörte, wie der Traktorrasenmäher wieder losratterte, bevor der Colonel die Verbindung unterbrach.
Augenblicke später erschien der Kellner wieder, hielt Bens Kaffee in der einen Hand und einen Teller mit Kunafeh in der anderen. Er stellte beides hin; dann legte er eine Serviette und Besteck aus seiner Schürze hinzu. Ben roch die warme Honigglasur und war plötzlich hungrig. Ihm fiel ein, dass er nichts mehr gegessen hatte, seit Colonel al-Asi ihn am Abend zuvor angerufen hatte.
»Leider wurde keine Brille gefunden, Sidi.«
»Danke, dass Sie nachgeschaut haben«, erwiderte Ben und rührte seinen Kaffee um. Er hatte gewusst, dass es ziemlich aussichtslos war. Ben machte sich über das Gebäck her. Es war frisch; der knusprige Teig und der süße Frischkäse waren noch ofenwarm.
Plötzlich erschien der Junge, der unnötigerweise den Außenbereich des Cafés gefegt hatte. Lächelnd stellte er sich an Bens Seite. Ben erwiderte das Lächeln und fragte sich, warum der kleine Kerl stehen blieb, als er sah, dass der Junge etwas in der linken Hand hielt:
Ein Brillenetui!
16.
DUBNA, RUSSLAND
Bürgermeister Anton Krilew hielt seine morgendlichen Vorstandsbesprechung, als einer seiner Assistenten in den Konferenzraum stürmte.
»Tut mir Leid, wenn ich unterbreche, aber …«
»Immer mit der Ruhe, Konstantin.«
Der junge Mann bemühte sich, wieder zu Atem zu kommen, was ihm nicht ganz gelang. »Ich habe gerade Nachricht aus dem Krankenhaus erhalten.«
Krilew nickte. »Aus welchem Krankenhaus?«
»Aus allen.«
Anton Krilew spürte den Anflug einer Panikattacke. Am Konferenztisch im Hauptquartier Dubna wechselte sein Vorstand nervöse Blicke.
Der junge Assistent fuhr fort: »Die Krankenhäuser sind überschwemmt mit Patienten, Herr Bürgermeister. Sie fordern Sie auf, den Notstand auszurufen.«
»Eine Epidemie?«, fragte Krilew sich laut, während er in Gedanken bereits alle Möglichkeiten durchspielte.
»Die Menschen sterben, Bürgermeister, zu Dutzenden.«
Dr. Ashar Levin, Leiter des städtischen Krankenhauses von Dubna, war Vorsitzender der kleinen, aber blühenden jüdischen Gemeinde der Stadt. Er
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