Die Spur des Drachen
wieder auf den Bildschirm. »Lassen Sie uns mal schauen, wo sie die Kisten hinbringen. Vielleicht finden wir es heraus.«
60.
»Die Lagerhalle ist jetzt nur noch etwa anderthalb Kilometer von hier entfernt«, sagte Victor Stepanski zu Ben. Sie waren hinter mehreren Bäumen in Deckung gegangen, von wo aus sie auf die eine Straße sehen konnte, die nach Dubna hineinführte. »Wir müssen sehr vorsichtig sein. Die Soldaten könnten überall stecken.«
»Haben Sie keine Angst, weiterzugehen?«
Stepanski zuckte die Achseln. »Wenn das, was immer aus diesem Ort entwischt ist, mich hätte töten können, dann wäre ich schon tot.«
Sie hatten den ganzen Morgen und einen Teil des Nachmittags gebraucht, um so weit zu kommen. Nach dem langen und strapaziösen Marsch schmerzte Bens Körper wieder, und die Steifheit war zurückgekehrt. Stepanski hingegen schien nicht einmal außer Atem zu sein, wenngleich er bei jeder Gelegenheit ein Zigarette rauchte, sorgfältig bemüht, den Stummel zu vergraben, wenn er aufgeraucht hatte, um jeden Hinweis auf ihre Anwesenheit zu verbergen.
Er und Ben waren in weniger als sechs Stunden zwanzig Kilometer über unebenes Terrain marschiert und hatten lediglich gehalten, um einen Schluck Wasser zu trinken. Außer einem Schokoriegel hatten sie nichts gegessen. Ohne die wärmende Sonne war der Tag kalt und grau. Dennoch klebte Bens Hemd ihm schweißnass auf der Haut. Er hatte mehrere Male die Jacke ausziehen müssen, um seinem Körper Kühlung zu verschaffen. Immer wieder hatten seine Waden sich verkrampft, und seine Knie schmerzten. Der letzte Hügel, den der kräftigere Stepanski mühelos und mit einer Zigarette im Mundwinkel erstieg, hatte Ben alles abverlangt.
»Ich habe viele Freunde, die früher in diesen Gebäuden gearbeitet haben«, meinte der Russe nun. »Sie sind alle fort, aus Geldmangel entlassen. Die meisten sind arbeitslos geblieben. Ich weiß nicht, wer noch dort ist. Es wird interessant sein, das herauszufinden.«
Ben streckte den Arm aus und hielt Stepanski zurück, bevor dieser weitergehen konnte. »Sie haben schon genug getan. Kehren Sie zu Ihrer Familie zurück. Bringen Sie Ihre Frau und die Kinder von hier fort.«
Stepanski nickte zögernd. »Was immer dort ist, warum hat man es nicht zerstört? Warum hat man es einfach hier gelassen?«
»Vielleicht war man der Meinung, es eines Tages brauchen zu können.«
Nachdem er die Straße überquert hatte, blickte Ben zu Stepanski zurück. Der Russe winkte mit seiner schwieligen Hand. Ben erwiderte die Geste und spürte, wie sich seine Finger in der kalten Luft versteiften. Dann verschwand er in den Wäldern. Nach Stepanskis Angaben musste Ben noch etwa einen Kilometer zurücklegen, um die Lagerhalle zu erreichen. Es war bitterkalt. Ben zog den Reißverschluss seiner Jacke bis oben zu.
Plötzlich fror er wieder.
Der Pfad durch den Wald war leicht zu erkennen und viel begangen. Dornengestrüpp und tief hängende Zweige kratzten an ihm, und dicke Ranken bildeten Stolperfallen.
Es war ein seltsames Gefühl für Ben, hier zu sein. Der Tod seines Vaters stand in direktem Zusammenhang mit Waffen, die aus der Sowjetunion nach Palästina geschmuggelt worden waren. Jetzt war sein eigenes Leben in Gefahr, weil die Russen Dinge verkauften, die während des Kalten Krieges angehäuft worden waren. 1967 waren den Palästinensern die Waffen von der Sowjetregierung kostenlos angeboten worden. Jetzt wurden sie von der russischen Unterwelt gegen Gewinne auf dem Schwarzen Markt verkauft. Ben schüttelte den Kopf über diese Ironie des Schicksals.
Er stapfte weiter. Wieder einmal dachte er an die letzten Tage seines Vaters. Anatoljewitsch war gestorben, bevor er ihm erzählen konnte, was geschehen war. Warum hatten die Waffen Palästina nie erreicht? Wie hatte dies zu Jafir Kamals Ermordung geführt? Ben hatte das Gefühl, dass der Weg, den er jetzt ging, auch zu den Antworten auf diese Fragen führte, dass eine seltsame Verbindung zwischen ihnen bestand. Allein in den Wäldern, ohne Rückendeckung, glaubte Ben, endlich zu verstehen: Er wollte sein Vater sein. Die verlorenen Jahre, ein flüchtiger Blick auf Jafir Kamal, wie er durch eine Tür am Flughafen verschwindet und nur einen Hauch seines Aftershaves zurücklässt. Ben suchte im Leben die Verbindung, die der Tod ihm verwehrt hatte, indem er einen anderen Kampf auf dieselbe Art kämpfte. Selbst jetzt, als Mann über vierzig, wollte er, dass sein Vater stolz auf ihn sein konnte und wollte
Weitere Kostenlose Bücher