Die Spur des Drachen
»Eine Blattlaus ist ein Insekt aus der Ordnung der Homopter. Diese leben in gemäßigten Zonen als Parasiten an Wurzeln, Blättern und Stängeln von Pflanzen. In ihrem Mund befinden sich Organe, die perfekt dazu geeignet sind, Pflanzen anzustechen und auszusaugen. Es handelt sich um vier lange, scharfe Stachel in einer Scheide oder Hülle. Dementsprechend ist keine Pflanze vor ihnen sicher. Nicht in den Feldern um Katani, nicht irgendwo anders in diesem Land.«
Cotter hielt inne, als Präsident Kabbah sich wieder vom Bildschirm abwandte und zu ihr blickte. Er hatte aufmerksam zugehört, während er gleichzeitig beobachtet hatte, wie die schwarze Woge den letzten Rest der von den Dorfbewohnern angebauten Nutzpflanzen verschluckte. »Ich brauche keine wissenschaftliche Vorlesung, Professor. Ich brauche eine Erklärung für das, was in Katani geschehen ist.«
»Leider ist beides ziemlich genau dasselbe, Mister President«, sagte Cotter und ging hinüber zu dem hartschaligen schwarzen Musterkoffer, den sie mit ins Regierungsgebäude gebracht hatte.
Sie und ihr Mann hatten zwei dieselben Koffer gekauft, bevor sie nach Sierra Leone gekommen waren. Deirdre hatte den Koffer ihres Mannes mit ihm zusammen begraben, fünfzehn Kilometer außerhalb von Freetown, in einem Zypressenwäldchen. Gewehrfeuer hatte das Begräbnis frühzeitig beendet und den Priester sowie ein paar der anwesenden Dorfbewohner in die Flucht geschlagen. Starrköpfig war Deirdre allein dort geblieben.
Jetzt öffnete sie ihren Koffer und nahm eine Glasvitrine heraus, etwa dreißig Zentimeter im Quadrat. Im Innern krabbelte eine Masse schwarzer Insekten über eine Schicht fest gestampften Staubes. Die Kreaturen waren so dicht gepackt, dass sie ein einziger Organismus hätten sein können. Das Bild auf dem Fernsehschirm, als Mikrokosmos eingefangen, nur ohne Pflanzen.
»Ich habe diese Exemplare gestern von den Reisfeldern mitgenommen«, fuhr Deirdre Cotter fort. »Seither habe ich sie ununterbrochen studiert.« Sie hielt Kabbah die Glasvitrine hin. Als er sich weigerte, sie zu nehmen, stellte Deirdre sie auf einen Tisch. »Die Vitrine war nur halb voll, als ich angefangen habe zu arbeiten.«
Kabbah kniete sich vor die Vitrine, um besser hineinsehen zu können. »Halb voll?«
»Sie haben sich fortgepflanzt und ihre Anzahl nach meiner Zählung fast verdoppelt.«
»In vierundzwanzig Stunden?«
Deirdre kniete sich neben den Präsidenten von Sierra Leone. »Im Herbst legen gewöhnliche Blattläuse befruchtete Eier, die den Winter an geschützten Stellen überstehen und aus denen im Frühling die Brut schlüpft. Sie produzieren flügellose Weibchen, die sich parthogenetisch fortpflanzen.«
»Ich weiß nicht, was …«
»Für die Befruchtung brauchen sie keine Besamung durch ein männliches Tier. Die Entwicklungszeit ist so kurz, dass die Tiere manchmal schon schlüpfen, bevor die Eier gelegt worden sind. Oft werden die frisch geschlüpften Tiere sogar schwanger geboren.« Deirdre Cotter tippte an das Glas, als wollte sie die Aufmerksamkeit der Tiere im Innern auf sich ziehen. »Soweit ich es beurteilen kann, ist jedes dieser Insekten ein Weibchen.«
»Wollen Sie mir damit sagen, dass Blattläuse die Reisfelder von Katani zerstört haben?«
»Nein, Sir. Ich will damit sagen … wer immer diese Viecher erschaffen hat, muss mit Blattläusen angefangen haben. Diese Spezies, die wir hier sehen, existiert in der freien Natur nicht. Sie ist nie erfasst worden. Jemand hat sie in einem Labor geschaffen, mit Hilfe molekularer und genetischer Technik – und mit bestimmten Zielen vor Augen.«
»Zum Beispiel?«
»Zum einen sind diese Insekten bis zu zehnmal so groß wie gewöhnliche Tiere, und ihr Metabolismus arbeitet entsprechend schneller als der von Blattläusen. Das heißt, alles erhöht sich um das Hundertfache, einschließlich ihres Appetits. Was immer diese Viecher sind, sie müssen ständig fressen, um überleben zu können und ihren einzigen anderen Zweck zu erfüllen.«
»Reproduktion«, sagte Kabbah.
Deirdre Cotter nickte. »Sie blicken auf den perfekten Organismus, Mister President. Gewöhnliche Blattläuse verbringen oft ihr ganzes Leben im Umkreis von drei Metern von der Stelle, an der sie geboren wurden. Doch der unersättliche Appetit dieser Kreaturen hier hat sie zu Nomaden gemacht, Wanderinsekten. Je mehr sie fressen, desto mehr Nahrung wird den wachsenden Eiern zur Verfügung gestellt, desto schneller werden diese Eier gelegt und desto
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