Die Spur des Drachen
Kopf. »Genug, um ganze Landstriche zu entvölkern, nehme ich an.«
Sukahamin trat näher an den Herrscher Sierra Leones heran. »Die Zeit für entschiedenes Handeln ist gekommen, Mister President.«
»Da stimme ich Ihnen zu.«
»Wir haben mehrere Pläne entwickelt, unter denen Sie wählen können. Der kommandierende Offizier der Amerikaner …«
»Ich will nichts vom amerikanischen Commander hören. Wir bedeuten ihm nicht mehr als der amerikanischen Regierung. Die interessieren sich ausschließlich für das leichte Rohöl, das sie aus Nigeria und Angola importieren. Sie helfen uns nur, um zu verhindern, dass die Instabilität in Sierra Leone auf Staaten übergreift, an denen sie wirkliches Interesse haben. Jeder Plan, den sie unterbreiten, wird fehlschlagen.«
»Bei allem Respekt, Sir, aber alle unsere Pläne hatten auch keinen Erfolg.«
»Weil wir versucht haben, Matabu nach unseren Regeln zu besiegen, nicht nach ihren.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht …«
»Hören Sie nicht mehr auf das, was die Amerikaner sagen, und Sie werden es verstehen. Jetzt müssen Sie mir zuhören«
»Gewiss, Mister President.«
»Gut. Dreitausend unserer Flüchtlinge kommen aus Guinea zurück nach Sierra Leone.«
»Flüchtlinge, Sir?«, fragte Sukahamin verblüfft.
»Sie haben nach dem Vordringen der RUF ihr Zuhause verloren und wurden an der Grenze von Beamten der Regierung Guineas zurückgewiesen. Ich möchte, dass diese Menschen in unseren Camps vor den Toren von Freetown untergebracht werden …«
»Unter diesen Umständen, Mister President, muss ich …«
»… und diese Camps müssen innerhalb von vierundzwanzig Stunden aufnahmebereit sein«, fuhr Kabbah ungerührt fort.
»Vierundzwanzig Stunden?«
»Haben Sie verstanden, Minister?«
»Ich …«
»Haben Sie verstanden?«
Sukahamin nickte. Sein Missfallen über den für diese Aufgabe gewählten Zeitpunkt war deutlich zu sehen. »Ich bin sicher, Sie wissen, was Sie tun, Mister President.«
»Ja. Und lassen Sie uns hoffen, dass mein Plan besser funktioniert als Ihre.«
68.
Latisse Matabu stand auf der Kuppe des Hügels und blickte in den undurchdringlichen Regen, der so heftig fiel, dass er den Sauerstoff aus der Luft zu ziehen schien. Das Gewitter hatte mit einem Donnergrollen begonnen, das wie Artilleriefeuer geklungen hatte. Noch immer lag der Geruch nach Ozon in der Luft. Der Donner war rasch verstummt, doch die sintflutartigen Regenfälle hatten angehalten, seit Stunden schon.
Latisse Matabu wischte sich das Regenwasser aus den Augen. Sie war froh, dass es die Tränen verbarg, die sie jedes Mal vergoss, wenn sie den Ort aufsuchte, an dem General Treest den Korb über den Klippenrand hatte fallen lasen, in dem ihr Baby gelegen hatte. Latisse erinnerte sich, dass sie geschrien hatte, bis sie heiser war. Die Soldaten hatten gelacht, als sie in ihre Jeeps stiegen, durch den Schlamm davonfuhren und Latisse zurückließen. Sie war den Steilhang zum Flussufer hinuntergeklettert und hatte sich Haut und Kleidung aufgerissen.
Bis tief in die Nacht hatte sie damals nach ihrem Baby gesucht, bis ein Suchtrupp der RUF sie am Morgen darauf schließlich fand. Zwei Wochen später war sie in die Vereinigten Staaten geschickt worden. Wären ihre Eltern nicht ermordet worden – sie wäre heute noch dort. Doch nach der Ermordung ihrer Eltern war Latisse, der Drache, nach Sierra Leone zurückgekehrt, ungeachtet der Drohungen seitens der Regierung, auch sie zu töten.
Das erste Problem nach ihrer Rückkehr waren die zwei einstigen Untergebenen ihres Vaters gewesen. Diese unfähigen Dummköpfe hatten den Versuch unternommen, die Führerschaft der Revolutionären Einheitsfront zu übernehmen, indem sie im ganzen Land Gemetzel verüben ließen, in dem Glauben, Angst und Schrecken würden dort Erfolg haben, wo Politik und Strategie versagt hatten. Latisse Matabu hatte sich als Prostituierte getarnt in ihr Lager geschlichen, hatte beide erschlagen und beim nächsten Treffen des RUF-Führungsstabs ihre Plätze eingenommen. Wenn die verbliebenen Generäle sie töten wollten, sollte es eben so sein. Wenn nicht, mussten sie Latisse Matabu, den Drachen, als neue Führerin akzeptieren. Und genau das hatten sie getan.
Zuerst aber hatte eine andere Aufgabe auf Latisse gewartet: General Treest war zum Vizekommandeur der Regierungstruppen aufgestiegen und wohnte mit seiner Familie in den Hügeln oberhalb von Freetown, die den Blick auf Meer gewährten. Eines Abends, kurz nach
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