Die Spur des Tieres
nicht!«
Salvat verzog die Mundwinkel beinahe abfällig, und es verletzte Lilith tief, als er sagte: »Wenn du im Besitz des wahren Glauben wärst, hätte es dich gar nicht befallen können. Es riecht die Ungläubigen! Auch sein vorheriger Wirt hatte dem Herrn entsagt, bevor er das Geschenk erhielt . Lehnst du immer noch ab?«
Lilith zögerte.
Salvat rief einen der Illuminaten herbei, die überlebt hatten. Auch er war nicht völlig ungeschoren davongekommen, dennoch hatte er im Vergleich zu den meisten seiner Gefährten Glück gehabt.
(Oder den wahren Glauben?)
Lilith hörte Salvats Befehl.
»Nein!« rief sie, als er verlangte, ein kleines Feuer zu entfachen, in das er die Hand, die ihren ersten Besitzer erwürgt hatte, werfen wollte. »Warte!«
»Worauf?« fragte Salvat. Aber das Erstaunen, das er mimte, war mühelos zu durchschauen. »Ich dachte, du hättest dich dazu entschieden, lieber gleich zu sterben. Hier .« Er heftete den Blick auf das Tuch, das Liliths Armstumpf abband und das im selben Moment - Zufall? - knirschend barst, als wäre es plötzlich morsch geworden.
Das zuvor gestaute Blut platzte förmlich aus der zerschnittenen Ader.
Lilith unterdrückte den Schrei, der ihr auf der Zunge lag. Für eine Sekunde verschmolz ihr Blick mit dem Salvats, und sie begriff, daß sie nie etwas verbunden hatte, was zwischen zwei Menschen der Erwähnung wert gewesen wäre. Im nachhinein bezweifelte sie sogar, daß seine Leidenschaft, die er ihr bewiesen hatte, etwas anderem als purem Kalkül entsprungen war.
Mit sehr widersprüchlichen Gefühlen im Herzen forderte sie ihn auf: »Ich sehe, du willst mir keine Wahl lassen. Also her damit! Es wird sich zeigen, ob sie mich >wieder nimmt< - und ob ihre erste Fingerübung nicht darin besteht, dir deinen verfluchten Hals umzudrehen ...!«
*
Der Anblick dessen, was sich aus drei Wesen heraus entwickelt hatte, kostete Beth mehr Kraft, als sie es nach all den Kriegsgreueln, die sie gesehen hatte, noch erwartet hätte.
Die infernalische Art, mit der die schwefelstinkende Kreatur diesseits der Ladentheke landete, ließ kaum einen Zweifel daran, daß sie des Tötens wegen gekommen war. Das zerquetschte Auge zwischen dem Gehörn wässerte so abscheulich, daß es Beth den Magen umdrehte - obwohl dieser Magen kaum Inhalt besaß. Auch sie lebte ja in der Hauptsache von etwas, das sich nicht greifen und nicht be-rühren ließ: Zeit. Die Zeit anderer .
Instinktiv versuchte sie, diese Fähigkeit jetzt gegen das Ungetüm zu richten, in dem auch etwas von Davids Vater steckte - etwas von dem, was Beth in der Herengracht besucht hatte und .
Sie schob entschieden jede Erinnerung daran von sich.
Ich habe nicht mit dem Teufel gebuhlt, dachte sie. Es ist eine Lüge, mit der er mich und David quälen will! Er ist nicht sein Vater. David wurde von einem Menschen gezeugt - und dieser Teuflische hier entführte ihn nur! Es ist nicht wahr, daß - »Es ist wahr!«
Nicht nur die Stimme, auch die Erkenntnis, daß ihre Fähigkeit, Zeit zu stehlen oder zu manipulieren, an IHM versagen würde, ließ Beth taumeln.
Vor ihren Augen verwandelte sich das schreckliche Tier in einen Mann mittleren Alters, mit graumelierten Schläfen und stechend grünen Augen.
Beth erkannte ihn sofort wieder, obwohl zwischen der letzten und der jetzigen Begegnung sechzehn Jahre lagen. Er war einer ihrer Freier in der Amsterdamer Herengracht gewesen - ein äußerst kundiger Liebhaber, dem es dennoch - wie überhaupt jedem ihrer Kunden - schwergefallen war, tiefere Lust in Beth zu entfachen. Damals hatte sie sich noch Lydia nennen lassen und nichts von ihrer wahren sexuellen Passion geahnt, die auf Frauen ausgerichtet war.
Die Gestalt vor ihr hatte sich in den anderthalb Jahrzehnten so wenig verändert wie sie selbst.
»Brauchst du noch mehr Beweise?«
Beth starrte auf die Augen ihres Gegenübers. Blinde Blicke kreuzten sich mit ihren. Die Augen des Gestaltwandlers erinnerten an die zerstörte Gallertmasse des Zyklopenauges, in das Beth zuvor geschaut hatte. Die Tatsache, daß dieses Wesen nicht fähig schien, alles zu reparieren, was ihm angetan wurde, hatte etwas ebenso Tröstliches wie Bestürzendes. Bestürzend deshalb, weil ihr Sohn - Beth blickte zu David, dem der Speichel vor Verzücken aus dem greisen Mund troff - sich auf die Allmacht seines Vaters verließ. Beth hingegen war überzeugt, daß dieses Wesen ihn betrügen würde.
Weil es jeden betrog.
Die »Geschäfte«, die dieses Geschöpf - in
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