Die Spur des Verraeters
sanft angeschlagen worden war, um einen Laut hervorzubringen.
»Junko muss dich sehr lieben, dass sie ihrem Vater gegenüber ungehorsam war, um sich heimlich mit dir zu treffen«, sagte Sano. »Dein Tod würde ihr das Herz brechen, zumal du für eine Tat sterben müsstest, die du gar nicht begangen hast.«
Als Sano bemerkte, dass Kiyoshi heftig schluckte, fuhr er fort: »Ich bin sicher, Junko würde alles dafür geben, um zu erfahren, weshalb du deine Ehre opferst und ihre Liebe verrätst.« Es war Sano zuwider, sich die schwache Stelle des Jungen zu Nutze zu machen, aber von Kiyoshis Aussage konnte sein und Hiratas Leben abhängen. »Wenn du mir erzählst, was gestern Abend wirklich geschehen ist, lasse ich Junko die Nachricht überbringen, dass du unschuldig bist und sie immer noch liebst.«
In das bislang unbewegte Gesicht des Jungen kam ein klein wenig Leben – wie die winzigen Wellen, die bei einem Erdstoß über eine Wasseroberfläche laufen. Doch immer noch schwieg er. Hatte er vor Angst und Entsetzen die Sprache verloren?
»Dann will ich dir erzählen, was meiner Meinung nach geschehen ist«, erklärte Sano und verbarg seine Hoffnungen und Sorgen. »Du brauchst nichts zu sagen. Schüttle nur den Kopf, wenn ich mich irre, und nicke, wenn ich Recht habe. In Ordnung?«
Keine Reaktion. Doch Sano fuhr fort: »Als du nach Deshima gegangen bist, um mit den Barbaren zu reden und die holländische Sprache zu üben – hast du da durch Zufall von den Schmuggeleien erfahren? Oder hast du die Schmuggler vom Wachturm aus beobachtet? Vielleicht bist du den geheimnisvollen Lichtern gefolgt, so wie ich – Geistergeschichten können einen tapferen Samurai wie dich nicht schrecken, habe ich Recht?«
»Jedenfalls hast du die Schmuggler in der Höhle entdeckt. Warst du gestern Abend dort, weil du sie überwältigen und dadurch ein Held werden wolltest? Oder gibt es einen anderen Grund, dass du in der Höhle gewesen bist? Antworte, Kiyoshi!«
Als der junge Samurai erneut keinerlei Reaktion zeigte, stieß Sano vor Enttäuschung und Hilflosigkeit den Atem aus. Er war sicher, dass Kiyoshi die Wahrheit kannte oder zumindest wusste, aus welchen Teilen diese Wahrheit bestand. Mit wachsender Verzweiflung versuchte Sano, diese Teile zu einem erkennbaren Ganzen zusammenzufügen, mit dem er vor dem Tribunal seine Verteidigung stützen konnte.
»Wen hast du in der Höhle anzutreffen erwartet, Kiyoshi? Wachsoldaten von Deshima? Iishino – oder deinen Vater?« Kommandant Ohira war von den möglichen Schuldigen derjenige, der am ehesten die Gelegenheit hatte, von Deshima aus ein Schmuggelgeschäft zu betreiben; überdies stand er Kiyoshi am nächsten, sodass der Junge ihn vielleicht schützen wollte und bereit war, für den Vater sein Leben zu lassen. Diese Gedanken erhärteten Sanos Verdacht, dass Ohira der Schuldige war. »Hast du dich selbst belastet, um deinen Vater zu schützen, Kiyoshi? Weißt du, wer Jan Spaen ermordet hat?«
Es war sinnlos. Egal wie logisch die Erklärung sein mochte, die Sano dem Tribunal vortrug – ohne eine Bestätigung durch Kiyoshi konnte sie weder sein Leben noch das Hiratas retten, falls der gefasst wurde. Und Kiyoshi hatte offenbar die Absicht, sein Wissen mit ins Grab zu nehmen.
Doch plötzlich bewegten sich die Lippen des Jungen, und in einem heiseren Flüstern sagte er irgendetwas, das Sano nicht verstand, sodass er sich rasch zu Kiyoshi vorbeugte, um ihn über das Rauschen des Regens hinweg verstehen zu können. »Der neue Tag bricht an, und der Todesmarsch beginnt … die Soldaten führen den Verurteilten, Yoshidô Ganzaemon, ins Hügelland. Er wird des Verrats beschuldigt … angeblich hat er den Shogun beleidigt. Ich nehme an diesem Todesmarsch teil, zusammen mit anderen Zeugen. Hinrichtungen machen mir Angst … aber ich habe nichts zu befürchten. Ich habe nichts Unrechtes getan.«
Ein gehetzter Ausdruck legte sich auf Kiyoshis Gesicht, als hätte er das schreckliche Bild vor Augen, das er soeben beschrieben hatte. Seine flüsternde Stimme begann zu schwanken. »Doch als wir den Hinrichtungsplatz erreichen, gehöre ich plötzlich nicht mehr zu den Zuschauern … Mit einem Mal bin ich der Verurteilte.« Schweiß tropfte ihm von der Stirn, und vor Entsetzen zitterte er am ganzen Leib. »Ich kann spüren, wie die Stricke mir ins Handgelenk schneiden …« Langsam führte er die Hände auf den Rücken und legte sie aneinander, als wären sie gefesselt. »Ich spüre das Gewicht der eisernen
Weitere Kostenlose Bücher