Die Spur des Verraeters
betrat die Zelle, und der Wärter verriegelte die Tür hinter ihm. Bis auf einen Eimer zur Verrichtung der Notdurft, der in einer Ecke stand, war die Zelle völlig kahl. Durch ein einziges, vergittertes Fenster, das sich unterhalb der Decke befand, waren Regentropfen zu sehen. Neben Kiyoshi, der mitten auf dem schmutzigen Fußboden kniete, stand eine Schüssel mit Reis und eingelegten Gurken. Man hatte ihm die Schwerter und seine Schuhe weggenommen; er trug einen zerlumpten Kimono aus Musselin und reagierte gar nicht, als Sano seinen Namen sagte. Sano setzte sich dem Jungen gegenüber und schauderte in seiner regenfeuchten Kleidung und der unangenehmen Kälte, die von den Zellenwänden ausgestrahlt wurde.
»Kiyoshi?«, versuchte Sano es noch einmal. »Kannst du mich hören?«
Die Miene des Jungen wirkte wie aus Stein gehauen und ließ keine Regung erkennen. Sein hübsches Gesicht war blass und eingefallen, sodass die aufgeplatzte Lippe und die Prellung am Wangenknochen seltsam grell aussahen. Sein Blick war nach innen gerichtet; beide Hände ruhten bewegungslos auf den Oberschenkeln. Obwohl Kiyoshi wie leblos wirkte, konnte Sano die Qualen spüren, die der Junge durchlitt. Jeder Gedanke Sanos, Drohungen oder körperliche Gewalt anzuwenden, um die Wahrheit aus Kiyoshi herauszupressen, verflog und wich dem Mitleid. Die Lügen dieses Jungen hatten Sano schwer belastet, zugleich aber hatten sie Kiyoshi selbst dazu verdammt, einen ehrlosen Tod zu sterben.
»Wirst du von den Gefängniswärtern gut behandelt, Kiyoshi?«, fragte Sano leise.
Keine Antwort. Die Miene des Jungen ließ nicht einmal erkennen, ob er überhaupt bemerkt hatte, dass jemand bei ihm in der Zelle war. Sano, der irgendeinen Weg finden musste, zu Kiyoshi vorzudringen, zog die Schale Reis zu sich heran.
»Sieht so aus, als hättest du nichts angerührt«, sagte er. »Möchtest du jetzt etwas essen?«
Als Sano sich den Reis und die Gurken genauer anschaute, verzog er vor Ekel das Gesicht. Der Reis war pappig und angebrannt, die Gurken faulig. Ein scheußlicher, säuerlicher Gestank stieg aus der Schale auf.
»Wache!«, rief Sano. Der Mann öffnete die Tür so schnell, dass Sano vermutete, der Bursche hatte draußen gelauscht. »Schaff diesen Abfall fort, und bring etwas Vernünftiges zu essen.«
Der Wächter machte ein finsteres Gesicht. »Er wird genauso behandelt wie alle anderen Gefangenen – er isst, was sie essen. Eine Sonderbehandlung gibt es hier nicht.« Rasch fügte er hinzu: »Befehl von Statthalter Nagai.«
Wie rasch und vollständig der Statthalter seinem einstigen Günstling sämtliche Privilegien entzogen hat, ging es Sano durch den Kopf. Glaubte Nagai wirklich an Kiyoshis Schuld, oder wollte er sich von einem Komplizen distanzieren, der als Sündenbock herhalten sollte?
»Bring heiße Suppe, frischen Reis und Sake«, sagte Sano zu dem Wärter. »Ich übernehme die Verantwortung.«
»Wie Ihr wünscht.« Der Wärter zuckte die Achseln, nahm die Schale und ging.
Als er kurz darauf mit einem Tablett Suppe, Reis und Sake wiederkam, stellte Sano es vor Kiyoshi hin, doch der Junge machte keine Anstalten, einen Bissen zu nehmen. Sano hielt ihm einen Löffel Suppe vor den Mund.
»Iss das«, sagte er. »Dann wirst du dich gleich besser fühlen.«
Die Suppe lief Kiyoshi von den Mundwinkeln übers Kinn und tropfte auf seinen Kimono, als Sano sie ihm einzuflößen versuchte. Auch den Reiswein schluckte der Junge nicht hinunter. Sano wischte ihm mit dem Ärmel den Mund ab. Dann redete er mit ruhiger, leiser Stimme auf Kiyoshi ein.
»Wenn ich es recht sehe, bist du ein pflichtbewusster und gehorsamer Samurai. Und obendrein ein kluger Kopf, sonst würdest du nicht Holländisch lernen.«
Sano hielt inne, wartete auf eine Erwiderung. Doch Kiyoshi blinzelte nicht einmal. Dennoch fuhr Sano fort: »Ich glaube nicht, dass du gegen das Gesetz verstoßen oder jemandem absichtlich Schaden zufügen würdest. Quälst du dich deshalb so sehr? Weil du wegen eines Verbrechens, das du zwar gestanden, aber gar nicht begangen hast, vielen Leuten Leid zufügst? Nicht nur mir, sondern auch Menschen, denen du Treue und Respekt schuldest … deinem Vater, Statthalter Nagai, Dolmetscher Iishino … und Junko.«
Wenngleich das Gesicht des jungen Samurai seine Blässe und Unbewegtheit beibehielt, bemerkte Sano die leichte Veränderung, als Junkos Name fiel: Die Atmosphäre um Kiyoshi schien zu vibrieren wie die straff gespannte Saite einer Samisen, die jedoch zu
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