Die Spur des Verraeters
den Eimer hatte er umgestoßen, sodass sich Suppe, Reis, Sake und Fäkalien auf dem Boden der Zelle vermischten. Sano versuchte Kiyoshi zu packen; er befürchtete, der Junge würde sich etwas antun, falls er nicht sofort aufgehalten wurde. Doch der gewandte Kiyoshi wich ihm aus, während Sano auf dem nassen Zellenboden immer wieder ins Rutschen geriet. Draußen auf dem Gang erklangen die Rufe des Wärters. »Was geht da drinnen vor? Macht nicht so einen Lärm! Ihr stört die anderen Häftlinge!«
»Ich habe es nur der Pflicht wegen getan!«, rief Kiyoshi. »Und aus Treue. Und … und aus Liebe. Ihr müsst mich gehen lassen! Lasst mich frei! Ich muss dem ein Ende machen … ein Ende machen …«
Mit einem gewaltigen Satz sprang Kiyoshi zum Zellenfenster hinauf. Sano packte den Jungen, doch der riss sich los, stürmte zur Zellentür, hämmerte wieder mit den Fäusten dagegen und schlug mit dem Kopf gegen das Holz. »Lass mich raus! Bitte, lass mich raus!«
Sano ergriff Kiyoshi und zerrte ihn von der Tür weg, während auf dem Gang der Riegel zur Seite geschoben wurde. »Beruhige dich, Kiyoshi.« Mit aller Kraft packte Sano den tobenden jungen Samurai und drückte ihn auf den Zellenboden, das Gesicht nach unten. Als Kiyoshi sich immer noch wand und um sich schlug, setzte Sano sich auf den Rücken des Jungen und packte dessen Arme in einem Haltegriff. »Lieg endlich still«, stieß er keuchend hervor. Kiyoshis Gegenwehr erlahmte, und sein Jammern und Heulen verstummte allmählich. »Alles wird gut …«
Kaum hatte Sano diese Bemerkung gemacht, erkannte er, wie dumm sie war. Selbst wenn Kiyoshi unschuldig war, konnten seine Worte als Geständnis ausgelegt werden, ein Schmuggler und Mörder zu sein – Verbrechen, die auch dann mit dem Tod bestraft wurden, wenn der Täter den irregeleiteten Versuch unternommen hatte, jemand anderen zu schützen.
Sano ließ den erschlafften, zitternden Jungen los und legte ihm besänftigend eine Hand auf den Kopf. »Du musst die Wahrheit sagen, Kiyoshi. Es ist die einzige Möglichkeit, dir selbst zu helfen – und den Menschen, die dir etwas bedeuten.«
Schweigen. Doch als Sano den Jungen langsam zu sich herumdrehte, sah er dessen veränderte Miene: Immer noch spiegelte sich Angst auf Kiyoshis Gesicht, doch der Ausdruck des Irrsinns war verschwunden.
Die Zellentür flog auf, und der Lärm auf dem Gang nahm zu, als die anderen Gefangenen in ihren Zellen randalierten. Der Wärter und zwei Helfer kamen in Kiyoshis Zelle gestürmt. »Ihr müsst jetzt gehen«, sagte der Wärter zu Sano. »Der Junge hat mit seinem Geschrei einen Gefangenenaufstand ausgelöst. Wenn Ihr ihn nicht allein lasst, wird alles noch schlimmer.«
»Nur noch einen Augenblick«, bat Sano. Um die Wahrheit zu erfahren, musste er dafür sorgen, dass Kiyoshi seinen Treueschwur brach, den er demjenigen geleistet hatte, den er durch sein Schweigen schützte, ob es nun Kommandant Ohira, Dolmetscher Iishino, Junko oder Statthalter Nagai sein mochte. »Er hat sich wieder beruhigt. Vielleicht sagt er mir jetzt, was ich wissen möchte.«
Doch der Wärter schüttelte den Kopf. »Kommt später wieder.«
Die Helfer packten Sano mit festem Griff und führten ihn aus Kiyoshis Zelle; dann verriegelte der Wärter die Tür. »Wartet …«, protestierte Sano, »ich …«
In diesem Augenblick ließ ein gewaltiger Donnerschlag das Gefängnis in seinen Grundfesten erbeben. Putz regnete von der Decke. Schockiertes Schweigen breitete sich aus. Dann begannen die Häftlinge wieder zu rufen und zu schreien, noch lauter als zuvor; sie hämmerten gegen die Türen und riefen flehend: »Lasst uns raus!«
»Was war das, bei den Göttern?«, stieß der Wächter hervor. »Ein Blitz? Ein Erdbeben?«
Sano war bleich geworden. Das Entsetzen schnürte ihm beinahe die Kehle zu. »Ich glaube, es war das holländische Schiff«, sagte er und stürmte zum Gefängnistor.
25.
L
eider erwies Sanos Vermutung sich als zutreffend. Als er vor dem Gefängnis stand, sah er, wie der holländische Segler mit Unheil verkündender, bedrohlicher Majestät in den Hafen einfuhr. Schwarzer Rauch stieg aus den Mündungen der Kanonen, die aus den Schießscharten im Unterdeck ragten. An Bord einer Schaluppe der Hafenpatrouille schlugen Flammen empor; Sano sah, wie das Heck langsam unter Wasser versank. Der holländische Kapitän war entgegen der Absprache schon vor Ablauf der Zweitagefrist in den Hafen von Nagasaki eingelaufen und ließ nun auf die japanischen Truppen
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