Die Spur des Verraeters
Blick auf seine vorerst einzige Zeugin – und Verdächtige.
Pfingstrose lag bewegungslos am Boden, eine Hand auf die Wange gepresst, auf die Minami sie geschlagen hatte. Ihr aufgestecktes Haar hatte sich gelöst und schimmerte in einem tiefen Blauschwarz. Ihre Schultern zuckten, und sie schluchzte leise.
»Ich tue dir nicht weh, Pfingstrose«, sagte Sano beruhigend. »Setz dich.«
Sie gehorchte, wich aber rasch in eine Ecke des Zimmers zurück, wo sie kniend verharrte. Doch Sano sah einen Hauch von Gerissenheit und wacher Intelligenz in ihren Augen. Die schwere Zeit im Goldenen Halbmond hatte Pfingstroses Verstand offenbar nicht zerbrechen können.
»Und nun erzähl mir alles, was damals in der Nacht geschah, die du bei dem Barbaren verbracht hast«, sagte er.
»Das alles habe ich doch schon Kommandant Ohira erzählt. Ich habe nicht gesehen, wann, wie und wo Spaen- san fortgegangen ist. Und ich weiß auch nicht, wohin er wollte.« Den Blick zu Boden gesenkt, war Pfingstroses Stimme ein angespanntes Murmeln, als würden ihre wulstigen Lippen sie beim Sprechen behindern. »Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, lebte er noch. Ich habe ihn nicht ermordet! Ich hätte ihn niemals ermorden können!« Ihr massiger Körper wurde von Schluchzern geschüttelt, und sie vergrub das Gesicht in beiden Händen. »Weil … weil ich ihn geliebt habe!«
Sano kniete sich neben sie und legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. Doch sein Mitgefühl erhielt einen ziemlichen Dämpfer, als er die harten Muskeln Pfingstroses spürte: Diese Frau hatte zweifellos die Kraft, einen Mann zu töten und seinen Körper zu verstümmeln.
Offenbar konnte Pfingstrose Sanos Gedanken spüren, denn sie rückte rasch von ihm weg. Aus ihren Schluchzern wurde ein herzzerreißendes Weinen. Sano ergriff Pfingstroses Handgelenke, zog die Hände von ihrem Gesicht fort, packte ihre Schultern und schüttelte sie leicht, bis sie sich beruhigt hatte. Sie schniefte und schaute Sano ängstlich und kummervoll an. Tränen schimmerten in ihren Augen und strömten ihr über die Wangen, und ihr lief die Nase wie einem kleinen Mädchen. Sano zog ein Tuch unter seiner Schärpe hervor und wischte ihr das Gesicht ab. Er verspürte Mitleid, fühlte sich zugleich aber abgestoßen. Pfingstroses Kummer schmerzte ihn; zugleich wusste er, dass ihre Hässlichkeit viele Menschen dazu verleiten mochte, ihr wehzutun. Auch Jan Spaen?
»Direktor Spaen war grausam zu dir«, sagte Sano. »Er hat dich beschimpft. Er hat dich geschlagen. Wie kannst du da erwarten, dass irgendjemand dir glaubt, du hättest diesen Mann geliebt?«
Bei Sanos anklagendem Tonfall gewann Pfingstrose vollends die Beherrschung wieder. Sie hob den Kopf, schaute ihn an und sagte: »Es war bloß ein Spiel. Nur wenn andere dabei waren, war er gemein und grausam zu mir. Später, wenn wir allein waren, habe ich ihn gefesselt. Ihn geschlagen. Er hat geweint und geschrien, aber es hat ihm gefallen. Mir hat es auch Spaß gemacht.«
»Soll das heißen, die Wachen auf Deshima haben Direktor Spaen schreien hören, als du ihn geschlagen hast?«
»Ja!«, erwiderte Pfingstrose fest.
Sano wusste, dass es Menschen gab, denen Demütigungen und Schmerzen sexuelle Lust bereiteten. Überdies bot Pfingstroses Aussage eine Erklärung für die Prellungen an Spaens Körper und dafür, dass Sano im Zimmer des Holländers die Stricke gefunden hatte. Oder war diese Geschichte nur eine gerissene Lüge Pfingstroses? War in Wahrheit sie von Spaen verprügelt und gedemütigt worden, sodass sie ihn aus Rache ermordet hatte?
Wie als Antwort auf Sanos unausgesprochene Frage band Pfingstrose ihre Schärpe los, erhob sich und streifte ihren Kimono ab, sodass Sano ihren nackten, drallen Körper betrachten konnte. Sie hatte kleine Brüste, breite Hüften und eine schlaffe Haut, auf der keinerlei Anzeichen von Schlägen zu sehen waren, keine roten Striemen, keine blauen Flecken, keine Prellungen. Sie wandte Sano den Rücken zu, der ebenfalls völlig unverletzt war. »Spaen- san hat mich nie geschlagen.«
»Zieh dich wieder an«, befahl Sano, der seine Enttäuschung nicht verhehlen konnte. Dass Pfingstroses Körper keine Wunden aufwies, entlastete sie erheblich. »Erzähl mir alles, was du an dem Abend und in der Nacht, als Direktor Spaen verschwand, auf Deshima getan hast. Wie bist du dorthin gekommen? Was ist dann geschehen? Wie und wann hast du die Insel wieder verlassen?«
Unter Sanos strengem Blick schwand Pfingstroses Trotz. Sie
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