Die Spur des Verraeters
Pfingstrose des Diebstahls überführt und dazu verurteilt hatte, drei Jahre im Vergnügungsviertel von Nagasaki als Prostituierte zu arbeiten, hatte sie weiterhin gestohlen – Geld von den Freiern, kleine Schmuckstücke von den anderen Frauen, Lebensmittel aus der Küche. Anfangs hatte sie ihre Beute in ihrem Zimmer versteckt, doch Minami hatte die Sachen entdeckt und Pfingstrose schrecklich verprügelt.
»Du wirst deine Lektion schon noch lernen!«, hatte Minami getobt, als sie um Gnade gefleht hatte.
Stattdessen hatte Pfingstrose dieses neue und bessere Versteck über der Latrine entdeckt. Hier blieb niemand lange genug, um sich die Decke näher anzuschauen. Nun zog Pfingstrose ein schwarzes Kästchen aus Lackarbeit aus ihrem Versteck hervor, das ungefähr die Größe einer ausgestreckten Hand besaß. Liebevoll streichelte sie über die Einlegearbeiten aus Perlmutt auf dem Deckel, die ein Blumenmuster zeigten. Dieses Kästchen, das Pfingstrose einem Handlungsreisenden gestohlen hatte, war ihr schönstes Beutestück, seit sie im Goldenen Halbmond arbeiten musste. Doch kostbarer noch als das Kästchen war sein Inhalt: der Schlüssel zur Freiheit.
Als Pfingstrose sich nun wieder ein Leben fernab vom Vergnügungsviertel vorstellte, erweckte dieser Gedanke dieselbe prickelnde Erregung in ihrem Inneren wie das Stehlen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und ihr Atem ging schneller. Ein berauschendes Gefühl der Macht durchströmte sie – ein Gefühl, das sie seit ihrer Kindheit kannte und herbeisehnte, als sie zum ersten Mal etwas gestohlen hatte: eine wunderschöne Puppe, die sie einem Hausierer fortnahm, der Spielzeug verkaufte. Die Freude, die Pfingstrose diese gestohlenen Gegenstände bereiteten, war dabei längst nicht so groß wie die Befriedigung beim Stehlen selbst. Wenn sie stahl, fühlte sie sich unbesiegbar. Sie rief sich jene Nacht in Erinnerung, als sie in den Besitz dieses mit Lackarbeit verzierten Kästchens gekommen war, in dem der kostbare Schatz verborgen war.
Im Monat zuvor, an einem schwülen Sommerabend, hatten die wilden Feiern im Goldenen Halbmond wie immer ihren obszönen Höhepunkt erreicht. Betrunkene Freier sangen und klatschten zur Musik von Samisen, Flöte und Trommel.
»Der Fluss, er steigt und steigt …«
»Heb deinen Rock, Dicke, sonst wirst du nass!«
Pfingstrose hatte vor den Freiern tanzen müssen. Sie gehorchte den gegrölten Rufen und hob ihren Kimomo bis über die Knöchel. Die anderen Kurtisanen kicherten; die Männer johlten und lachten. Tränen der Scham liefen Pfingstrose über die Wangen, als sie unbeholfen hüpfte, sich im Kreis drehte, den Kimono noch höher hob und ihre krummen Beine und die prallen Oberschenkel zeigte.
»Höher! Höher!«
Minami lachte zusammen mit den anderen, doch seine Augen waren hart wie Stein, als er Pfingstrose ins Gesicht starrte. Seine Botschaft war unmissverständlich: Wenn sie, Pfingstrose, den Freiern nicht gehorchte, würde Minami sie leiden lassen. Also raffte Pfingstrose den Kimono noch ein Stück höher und entblößte ihre prallen Pobacken und ihre wie bei allen Kurtisanen rasierte Scham. Sie schämte sich so sehr, dass sie beinahe in Ohnmacht gefallen wäre.
Die Freier grölten, würgten und hielten sich die Nasen zu. Pfingstrose ergriff die Flucht und eilte schluchzend über den dunklen Flur. Die Tür zu einem der Gästezimmer stand offen; aus dem Inneren waren Stöhnen und Kichern zu vernehmen. Silbernes Mondlicht fiel durch die Fenster und beleuchtete zwei nackte Gestalten, die in inniger Umarmung auf dem Futon lagen. Und zwischen den am Boden verstreuten Kleidungsstücken schimmerte ein wunderschöner Gegenstand. Rascher und leiser als ein Atemzug huschte Pfingstrose ins Zimmer und wieder hinaus, wobei sie den Gegenstand unter ihrem Kimono verbarg. Das Gefühl des Triumphes, das sie erfüllte, war wie Balsam für ihren verwundeten Stolz.
Und nun, allein und ungestört auf der Latrine, lächelte Pfingstrose. Bald würde sie erfahren, wie kostbar ihr Schatz wirklich war und welche Verbrechen sein Besitzer begangen hatte. Dass der sôsakan von einem Kruzifix gesprochen hatte, erhärtete Pfingstroses andere Vermutungen. In ihrer Aufregung hätte sie dem sôsakan beinahe die Geheimnisse Deshimas offenbart, war aber im letzten Moment zur Besinnung gekommen. Den Göttern sei Dank! Den Besitzer des Schatzes würde es das Leben kosten, wenn ein Beweisstück wie dieses den Behörden in Edo in die Hände fiel.
Wie viel er wohl
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