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Die Spur des Verraeters

Die Spur des Verraeters

Titel: Die Spur des Verraeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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verstummten abrupt. Dann murmelte sie: »Ich bin keine Christin. Dieser Glaube verstößt gegen das Gesetz.«
    Entweder hatte sie nichts von dem Kruzifix gewusst, oder Sano hatte einen wunden Punkt getroffen. »Der christliche Glaube verbietet das Töten«, sagte er, »und verlangt von den Menschen, dass sie einander lieben. Wolltest du Buße für deine Sünde tun, als du Spaen das Kreuz um den Hals gelegt und für seine Seele gebetet hast, nachdem du ihn ermordet hattest? Liebst du ihn erst jetzt, wo er dir keinen Schmerz mehr zufügen kann? Ist dein Hass auf Jan Spaen mit ihm gestorben?«
    »Ich habe Spaen- san nicht ermordet, und ich habe ihn nicht gehasst!« Pfingstrose hob den Kopf und schleuderte mit einem Ruck ihr Haar aus der Stirn. Wieder funkelten Verschlagenheit und Trotz in ihren tränennassen Augen. »Aber ich kann Euch sagen, wer ihn gehasst hat. Urabe, der Kaufmann, der mit ausländischen Waren handelt. Weil Spaen- san ihn betrogen hat. Und in der Nacht, als Spaen- san verschwand, war Urabe auf Deshima.«
    »Aber für diesen Tag stand dein Name als einziger im Besucherbuch«, sagte Sano verdutzt.
    Pfingstrose lachte zornig auf. »Dann stimmt das Besucherbuch nicht. Ich habe Urabe mit eigenen Augen gesehen. Nicht alles, was auf Deshima geschieht, wird aufgeschrieben, wisst Ihr.« Mit einem Mal blickte sie erschreckt drein, als hätte sie mehr gesagt, als sie preisgeben wollte. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und meinte kläglich: »Ich bin müde. Und ich muss noch im Haus arbeiten. Wenn ich nicht fertig werde, lässt Minami mich zur Strafe hungern. Bitte, lasst mich jetzt in Ruhe. Ich habe Euch alles erzählt, was ich weiß.«
    Als Sano sie nach dem Verhältnis Direktor Spaens zur Wachmannschaft und den anderen Barbaren fragte, schüttelte Pfingstrose den Kopf. »Glaubt Ihr etwa, die Wachen erzählen mir alles? Und was die Barbaren angeht, verstehe ich ihre Sprache nicht.«
    Sano erhob sich, um zu gehen. Er war verwirrter als zuvor. Die Ermittlungen in diesem Fall zogen immer größere Kreise. Wie viele Geheimnisse musste er noch aufdecken, ehe er die Wahrheit über den Mord an Jan Spaen herausfand? Wie passte der christliche Glaube ins Bild? Sano traute Pfingstrose ebenso wenig wie den Wachen. Er glaubte nicht, dass sie aufrichtig war, sondern irgendetwas verbarg; er konnte es spüren. Aber er musste zumindest ihren Aussagen über Urabe nachgehen, dem neuesten japanischen Verdächtigen.

10.

    P
    fingstrose blieb im Zimmer und lauschte den Schritten des sôsakan , die sich langsam entfernten und leiser wurden. Sie hörte ihn irgendetwas sagen, und Minami antwortete. Dann verebbten die Stimmen der Männer, als sie den Garten verließen. Pfingstrose eilte zur Tür und spähte hinaus. Die Kurtisanen waren von der Veranda verschwunden. Im Augenblick würde es wohl niemandem auffallen, wenn sie fort war. Pfingstrose hasste die ständigen Forderungen, die von den anderen Bewohnern des Freudenhauses an sie gestellt wurden, mindestens ebenso sehr wie den erzwungenen Geschlechtsverkehr mit fremden Männern. Nun aber hatte sich ein Weg in die Freiheit für sie eröffnet. Dienerin am Tag, Prostituierte in der Nacht, missbraucht, gescholten und verachtet – das alles würde bald hinter ihr liegen.
    Pfingstrose wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, öffnete die Tür, die auf den Flur führte, und schaute rasch nach links und rechts. Niemand war zu sehen. So leise sie konnte, ging sie über den Korridor. Durch die papierbespannten Wände hindurch konnte sie das Geschnatter der Kurtisanen hören, während sie badeten und sich für die ausgelassenen Feiern kleideten, die am Abend begannen und bis in den frühen Morgen dauerten. Pfingstrose duckte sich und rechnete jeden Augenblick damit, dass eine schrille Stimme ihren Namen rief, doch wundersamerweise verlangte niemand ihre Dienste. Nun konnte sie ihre Flucht planen.
    Sie schlich einen schmalen Gang hinunter, stieg die drei Stufen zur Latrine hinauf – einem kleinen Anbau – und schlüpfte hinein. Das Licht, das durchs vergitterte Fenster fiel, erhellte den winzigen, vollgestellten Raum mit dem Loch im Fußboden. Der Gestank von Urin und Fäkalien umhüllten Pfingstrose; dennoch genoss sie es, allein zu sein und von den anderen in Ruhe gelassen zu werden. Sie streckte den Arm aus, entfernte ein loses Brett aus der Holzdecke und schob eine Hand durch die Öffnung in den leeren Raum zwischen der Decke der Latrine und dem Dach des Hauses.
    Obwohl man

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