Die Spur des Verraeters
mit der chinesischen Geschichte vertraut seid, dann wisst Ihr, dass sie einem ständig wiederkehrenden und vorhersehbaren Zyklus folgt. Ein starker Mann steigt zur Macht auf und begründet eine Dynastie. Er wird zum Kaiser, zum Sohn des Himmels auf dem Drachenthron. Doch irgendwann verliert dieses Herrschergeschlecht an innerer Kraft und Macht – und dann beginnen die Probleme.«
»Es kommt zu Hungersnöten, die zu Aufständen führen, und die wiederum schwächen die kaiserliche Macht immer weiter«, sagte Sano und erinnerte sich an den Geschichtsunterricht im Zôjô-Tempel. »Bis die Herrschaftsgewalt schließlich so schwach geworden ist, dass der Kaiser den Anspruch aufgeben muss, der Sohn des Himmels zu sein. Und inmitten von Krieg und Aufruhr erhebt sich ein neues Herrschergeschlecht und stürzt das alte, und der Kreislauf beginnt von vorn.«
»So ist es«, sagte Abt Liu Yun. Und als der vorerst letzte Zyklus endete und die Ming-Kaiser gestürzt wurden, kam die Herausforderung aus dem Nordosten, von den Nomadenstämmen in der Mandschurei. Sie eroberten Fu-shun, Liaoyang, Shen-yang, Shensi, Hunan, Shantung, Kiangnan, Jiangxi, Hubei, Ssuch’uan, Fukien, Chien-chou, Amur und schließlich Peking. Der siegreiche Stammesführer der Mandschuren erklärte sich zum Herrscher auf dem Drachenthron und begründete die Ching-Dynastie.
»Der größte Teil der Bevölkerung, darunter die meisten Beamten der gestürzten Ming-Dynastie, erkannte die Herrschaft der mandschurischen Kaiser schon aus Furcht an. Ich dagegen wetterte gegen die fremdländischen Sitten und die Kleidung und flocht mein Haar wie in den alten Zeiten zu einem Zopf. Einige Getreue der gestürzten Ming-Herrscher aber wollten die Niederlage nicht hinnehmen und gingen noch viel weiter. Ein Aufständischer namens Kuo Hsing-yeh stellte in den Küstenregionen Truppen auf, mehrere tausend Mann stark. Das Heer konnte Amoy erobern, und Quemoy, Chinkiang und die Insel Taiwan. Doch die Ching-Herrscher eroberten sämtliche Gebiete auf dem Festland zurück. Dann nahmen sie die Hilfe der holländischen Ostindischen Kompanie in Anspruch, um auch Taiwan zurückzuerobern. Die Insel fiel vor sieben Jahren, nach einer verbissenen Seeschlacht und nach fast zwanzig Jahren Krieg. Mein Bruder war einer von Kuo Hsing-yehs Offizieren – ein gebrochener alter Mann, einer der letzten Verteidiger einer verlorenen Sache. Und Jan Spaen war der Kapitän des holländischen Schiffes, das die Einheit meines Bruders vernichtete. Spaen nahm meinen Bruder gefangen und ließ ihn zu Tode foltern. Dass Leute, die diese Geschichte kennen, mir fälschlicherweise einen Groll gegen die Holländer im Allgemeinen und gegen Jan Spaen im Besonderen nachsagen, dürfte jetzt wohl verständlich sein.«
»Soll das heißen, Ihr hasst die Holländer nicht?«, fragte Sano skeptisch. Ein Samurai hätte es als persönliche Beleidigung aufgefasst, wäre sein Bruder gefoltert und ermordet worden, und hätte eine Möglichkeit gesucht, Rache zu nehmen. Waren die Chinesen so anders?
An Bord der Dschunke vollführte der Akrobat einen schwungvollen Salto; dann drehte er sich in Richtung des Abtes und verbeugte sich. In einer Geste der Anerkennung hob Liu Yun die Hand, bevor er sich mit einem herablassenden Lächeln wieder Sano zuwandte. »Als ich ins Kloster eintrat, habe ich mich vom Schmerz, vom Neid und den Unbilden des irdischen Lebens befreit. Ich gab meine Karriere als Diplomat am Kaiserhof auf, meinen Wohlstand und meine Familie, um spirituelle Erleuchtung zu finden. Einst hätte ich den Tod meines Bruders betrauert. Heute aber ist die Trauer eine Empfindung, die sich tief unter der Ebene meiner spirituellen Wahrnehmung befindet. Ich empfinde nur noch Freude über das Herannahen des Nirwana – des ewigen und ekstatischen Einsseins mit dem All.«
»Demnach hegt ihr keinen Groll gegenüber Jan Spaen, dass er Euren Bruder hinrichten ließ? Ihr habt Spaen nicht den Tod gewünscht?«, fragte Sano, noch immer nicht überzeugt.
Das Kichern des Abts hörte sich wie das Zirpen einer Grille an, die im Inneren einer Tempelglocke aus Messing saß. »So ist es. Ich habe ihm nicht den Tod gewünscht – weder zu der Zeit, als ich noch Beamter war, und auch später nicht, nachdem ich ins Kloster ging. Mein Bruder hat seinen Tod durch seine Dickköpfigkeit selbst verschuldet – durch seine Weigerung, die mandschurischen Kaiser nach ihrem Sieg als Söhne des Himmels anzuerkennen, obwohl sie Anspruch darauf hatten. Jan
Weitere Kostenlose Bücher