Die Spur des Verraeters
erfahren. Nie wieder würde er einem hochgebildeten Vertreter aus dem Land uralten Wissens und ehrwürdiger Traditionen so nahe kommen; der bakufu würde es nicht erlauben.
»Wo habt Ihr unsere Sprache so gut gelernt, ehrwürdiger Abt?«, fragte Sano.
»In meiner Jugend war ich Beamter am kaiserlichen Hof der Ming-Herrscher in Peking«, erwiderte Liu Yun. »Zu einer Zeit, bevor Eure Regierung ihren Bürgern untersagte, ins Ausland zu reisen.« Sano bemerkte, dass der Abt das R ein wenig schleppend aussprach und den melodischen Klang seiner Muttersprache auch beim Japanischen beibehielt. »Ich wurde von einem japanischen Lehrer unterrichtet und habe später im Ministerium für ausländische Angelegenheiten in Peking gearbeitet. Dabei habe ich unter anderem japanische Kaufleute, Priester und Gelehrte empfangen, die gekommen waren, dem Kaiser zu huldigen. Nun bin ich seit sechs Jahren in Eurem wundervollen Heimatland.«
Chinesische und japanische Priester machten sich häufig als Kaufleute, Beamte oder Gelehrte einen Namen, bevor sie in ein Kloster eintraten; dennoch war Sano erstaunt, dass dies auch auf Abt Liu Yun zutraf: Dieser Mann strahlte jene heitere Ruhe aus, wie man sie meist bei Priestern fand, die ihr Gelübde schon in jungen Jahren abgelegt hatten und mit dem weltlichen Leben kaum mehr in Berührung gekommen waren. In Liu Yuns Stimme lag der gedämpfte Klang dunkler Gebetshallen, und seine schräg stehenden Augen schienen niemals fest auf einem Punkt zu ruhen. Sano hatte den Eindruck, als würde der alte Mann eine Landschaft betrachten, die nur er allein sah. Doch Abt Liu Yun war auf dem Laufenden, was die Ereignisse in der Stadt betraf, wie seine nächsten Worte bewiesen.
»Wie ich hörte, ermittelt Ihr im Fall des ermordeten Barbaren. Gibt es irgendeine Möglichkeit, dass ich Euch in dieser Angelegenheit helfe?«
Sano ging mit Liu Yun ein paar Schritte die Anlegestelle hinauf, wobei sich beide Männer von der Menge entfernten. Es war riskant, allein mit einem Ausländer zu reden, doch Sano ging dieses Wagnis ein, denn er wollte endlich seine Ermittlungen vorantreiben und überdies seine Neugier befriedigen. »Ich vernehme jeden, der auf irgendeine Weise mit Direktor Spaen und den Holländern in Verbindung stand, ehrwürdiger Abt. – Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr nicht gut auf die Holländer zu sprechen seid.«
In friedlicher Ruhe beobachtete der Abt die Feierlichkeiten. Singend zündeten die Priester das Papiermodell einer Scheune an, in der papierene Tiere standen; Flammen schlugen empor, und Rauch stieg zum Himmel. Die Besatzung der Dschunke hatte zwischen dem Bug und der Anlegestelle ein langes Brett über das Wasser gelegt, auf dem ein Akrobat Rad schlug, auf den Händen ging und andere Kunststücke vollführte.
»Ah, ja«, sagte Liu Yun und nickte bedächtig. »Nagasaki ist zwar ein großer Hafen, von dem Schiffe in alle Welt fahren, aber im Grunde ist die Stadt ein kleines und schwatzhaftes Nest geblieben. Meine Privatangelegenheiten – wie auch die jedes anderen Bewohners von Nagasaki – sind Wasser auf die Mühlen jener Leute, die nichts lieber tun, als sich die Mäuler zu zerreißen.«
»Aber was ist der Grund für Euren Zorn? Weshalb sind Gerüchte aufgekommen, dass Ihr die Holländer nicht ausstehen könnt?«, fragte Sano.
Die Priester zündeten das Papiergeld an und warfen brennende Fetzen ins Meer, was Liu Yun mit abwesendem Blick beobachtete. »Jan Spaen«, sagte er dann, »war für den Tod meines einzigen Bruders verantwortlich – wenn auch nicht allein.«
Eine Aufeinanderfolge von Donnerschlägen ließ den Boden erbeben, als von Bord der Dschunke Feuerwerksraketen zischend zum Himmel emporstiegen und in gewaltigen Schauern aus roten, goldenen und grünen Sternen explodierten. Die Menge hielt den Atem an, brach dann in bewundernde Rufe aus. Das farbige Licht am Himmel fiel auf Liu Yuns ernstes Gesicht.
»Wie und wann ist Euer Bruder gestorben?«, fragte Sano. Er war erstaunt, dass Liu Yun mit solchem Gleichmut vom Tod erzählen konnte. Sanos Vater war vor anderthalb Jahren gestorben; aber ein Teil von ihm würde diesen Verlust niemals verwinden.
»Das Schicksal meines Bruders entspricht in seinem Wesen dem Lauf der chinesischen Geschichte in den letzten fünf, sechs Jahrzehnten«, erklärte Abt Liu Yun. »Ich bin jetzt fünfundsiebzig Jahre alt; mein Bruder wäre heute dreiundsiebzig. Wir wurden volljährig, als der Niedergang der großen Ming-Dynastie begann. Wenn Ihr
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