Die Spur des Verraeters
Kopf hinweg. Sano verwarf den Gedanken, die Wachen auf Deshima anzurufen; die Entfernung war zu groß. Vielleicht wollte der Bogenschütze verhindern, dass Sano zu der Insel ritt, solange die Lichterscheinung – was immer sie sein mochte – sich dort befand. Möglicherweise war der Bogenschütze auf irgendeine Weise mit der Besatzung Deshimas verbündet, vielleicht sogar in den Mord an Jan Spaen verwickelt.
Sano wendete sein Pferd, blinzelte in die Dunkelheit und ließ den Blick über die Dächer der umliegenden Häuser schweifen, um den Bogenschützen auszumachen. Doch es war niemand zu sehen. Nachdem er ein Stück weitergeritten war, ohne dass wieder ein Pfeil geflogen wäre, fühlte Sano sich sicherer. Wahrscheinlich hatte der heimtückische Schütze seine Meinung geändert und sah jetzt keine Gefahr mehr darin, wenn Sano nach Deshima ritt. Doch kaum hatte er sein Pferd erneut gewendet, sirrte wieder ein Pfeil heran, der um ein Haar seinen Hals durchbohrt hätte. Sano warf einen raschen Blick über die Schulter. Vor dem Schleusentor Deshimas sah er die rätselhaften Lichter aufblitzen – lila, grün und weiß. Dann gab er dem Pferd die Zügel frei und preschte nach links eine Straße entlang, die ins Binnenland führte und von kleinen, dicht an dicht stehenden Wohnhäusern gesäumt war. Schließlich brachte er das Tier zum Stehen und schaute sich um.
Die Straße war menschenleer, und die vorstehenden Dachränder und Balkone der Häuser warfen tiefschwarze Mondschatten. Plötzlich hörte Sano ein rhythmisches, tappendes Geräusch, und seine Muskeln spannten sich. Waren es Schritte auf einem der Dächer? Dann sah er, dass ein Fensterladen im Wind hin und her schwang und das Geräusch verursachte. Dennoch konnte er spüren, dass sich ganz in der Nähe etwas – oder jemand – Bedrohliches befand.
Sano ritt weiter, wobei er sich im Mondschatten der Balkone und Dachvorsprünge hielt. Wieder war er verkrampft und angespannt, denn er rechnete mit weiteren Pfeilen, die aus der Dunkelheit heransirrten. Doch nichts geschah. Erneut ließ er den Blick über die Dächer der Häuser schweifen, erblickte aber niemanden. Ermutigt lenkte er das Pferd nach rechts und ritt eine Straße entlang, die parallel zur Uferpromenade verlief.
Augenblicke später zischte ein Pfeil über seine rechte Schulter hinweg und traf die Wand eines Hauses in der Nähe. Der Angreifer schien zu ahnen, dass Sano immer noch die Absicht hatte, in dieser Nacht das Rätsel der mysteriösen Lichter zu ergründen, die sich inzwischen auf Deshima befanden.
Nun konnte Sano Schritte hören, die über ihm auf einem Dach pochten. Und dann sah er den Schützen. Ein schwarz gekleideter Mann, der einen langen Bogen hielt, kniete auf einem der Dächer und legte erneut auf sein Opfer an. Der Pfeil sirrte von der Sehne und traf Sano in die Schulter. Er hatte das Gefühl, der Arm würde ihm abgerissen, stürzte vom Pferd, prallte hart auf die gepflasterte Straße und schrie gellend auf, als ein stechender Schmerz durch seinen Arm bis in die Brust jagte. Stöhnend tastete er mit den Fingerspitzen den Pfeilschaft entlang, bis er die Spitze in seinem Fleisch spürte; dicht unter dem Schlüsselbein war sie ihm in die Schulter gedrungen. Warmes Blut strömte ihm über die Hand. Er wagte es nicht, den Pfeil herauszuziehen; es konnte sein, dass das Blut dann noch schneller aus der Wunde strömte. Er durfte nicht in Panik verfallen; jede heftige Bewegung konnte den Schaden verschlimmern. Aber er durfte auch nicht hier liegen bleiben, sonst traf ihn ein weiterer, wahrscheinlich tödlicher Pfeil – oder er verblutete jämmerlich.
Sano rappelte sich auf. Wie aus weiter Ferne hörte er die Schritte des Bogenschützen, der über die Dächer davonrannte. Heiße Wut loderte in Sano auf. »Komm her, und kämpfe!«, rief er in hilflosem Zorn und griff nach seinem Schwert.
Bei dieser Bewegung durchraste eine neuerliche, feurige Lohe des Schmerzes seinen Arm und die Schulter. In diesem Zustand konnte Sano den Angreifer niemals überwältigen. Ohne rasche ärztliche Hilfe verursachte der Pfeil womöglich bleibende Schäden, konnte sogar tödlich sein. Widerwillig musste Sano seinen Plan aufgeben, der Spur der geheimnisvollen Lichter zu folgen und stattdessen sofort zu seiner Unterkunft zurückreiten.
Stöhnend stieg er auf sein Pferd, presste eine Hand auf die verletzte Schulter und begann den langen und langsamen Ritt durch die menschenleeren Straßen. Er fragte sich, wer auf
Weitere Kostenlose Bücher