Die Spur des Verraeters
Holländer für das Verbrechen eines Japaners bestrafen, sagt er. Wenn Ihr dem Kapitän nicht in spätestens zwei Tagen den Kopf von Jan Spaens Mörder bringt und ihm und seiner Besatzung erlaubt, an Land zu gehen, will er Nagasaki vom Angesicht der Erde tilgen!«
Sprachlos vor Erschrecken, starrte Sano aufs Meer hinaus. Sein Misstrauen gegenüber Kapitän Oss war also berechtigt gewesen; der Holländer hatte genau so reagiert, wie Sano befürchtet hatte. Dieser ehrgeizige Mann wollte den Mord an Jan Spaen offenbar als Vorwand für eine Kriegserklärung Hollands an Japan benutzen; die Barbaren würden die Schätze des Landes an sich raffen und seine Bewohner unterwerfen. Sano musste an die Geschichten denken, die man sich über die holländischen Eroberungen erzählte. Sollte er zu dem Segelschiff hinausfahren und versuchen, die Bedrohung abzuwenden? Nein. Das Ultimatum des Barbaren ließ ihm keine Zeit mehr für eine Bootsfahrt zu dem holländischen Segler. Er hätte ohnehin nichts mehr erreichen können.
Fieberhaft dachte Sano über mögliche Auswege nach. »Du wirst Kapitän Oss eine Nachricht überbringen«, wandte er sich dann an den Wachsoldaten. »Sag ihm, meine Nachforschungen deuten tatsächlich darauf hin, dass ein Japaner Direktor Spaen erschossen hat. Ich werde tun, was ich kann, um den Täter zu überführen. Sag dem Kapitän, er hat mein Ehrenwort, dass ich den Mörder nicht schützen werde, aus welchem Land er auch kommt.«
Es war ein Eid, mit dem Sano sein Leben aufs Spiel setzte. Doch hoffte er, den Kapitän auf diese Weise besänftigen zu können – besonders, da Sano nun einen Grund mehr hatte, das Anlegen des holländischen Schiffes zu verhindern: Solange unbewiesen war, dass die japanischen Wachen auf Deshima nichts mit dem Mord an Spaen zu tun hatten, und solange Sano nicht beweisen konnte, dass die japanischen Tatverdächtigen unschuldig waren, konnte er auch nicht für die Sicherheit der Stadt und des Landes garantieren und musste dafür sorgen, dass das holländische Schiff vorerst auf See blieb.
»Und noch etwas«, fuhr Sano fort. »Sag Kapitän Oss, ich komme in zwei Tagen zu ihm und bringe ihm den Kopf von Direktor Spaens Mörder. Bis dahin bitte ich den Kapitän mit allem Respekt, den Hafen von Nagasaki nicht anzulaufen.«
»Jawohl, sôsakan-sama .« Der Soldat verbeugte sich.
»Ich werde Statthalter Nagai davon unterrichten, was geschehen ist«, sagte Sano, band sein Pferd los, das in der Nähe stand, und ritt in die Stadt. Vor Müdigkeit waren ihm die Glieder schwer; die alte Wunde an seinem Arm schmerzte, und ihm brummte der Schädel, als er daran dachte, was er in den nächsten zwei Tagen alles zu erledigen hatte: Er musste Kommandant Ohira und die Wachen auf Deshima dazu zwingen, die Wahrheit zu sagen; er musste dem vagen Hinweis nachgehen, dass der Mörder Jan Spaens christlichen Glaubens sein könnte, und er musste weitere Gespräche mit Pfingstrose, Kaufmann Urabe, Kiyoshi und Abt Liu Yun führen – wobei ständig der Schatten eines drohenden Krieges über der Stadt lag. Und schließlich musste er Hirata, seinen übereifrigen Gefolgsmann, zur Vernunft bringen, dessen Hilfe er nicht in Anspruch nehmen durfte, auch wenn er sie dringend benötigt hätte.
Die feuerrote Scheibe der Sonne versank am Horizont; die Farbe des Himmels wechselte von tiefem Purpur zu Schwarz. Als Sano in einem verwahrlosten Stadtviertel durch dunkle Gassen ritt, an baufälligen Häusern vorüber, überlief ihn bei dem plötzlichen Gefühl drohender Gefahr eine Gänsehaut. Es waren noch drei Stunden bis Mitternacht; ein Großteil der Bewohner Nagasakis, die von der Fischerei lebten und in aller Frühe aufstehen mussten, hatten sich bereits zu Bett begeben. Das einzige Licht stammte von den Laternen an den Toren der Häuser, und die einzigen Fußgänger, die Sano erblickte, waren Nachtschwärmer. Da er sich vor Straßenräubern hüten musste, behielt er stets eine Hand am Schwertgriff. Trotz seiner Müdigkeit zwang er sich, wachsam zu bleiben und ruckte an den Zügeln, damit das Pferd schneller trabte.
Die Straße stieg an und führte ins Hügelland. Am höchsten Punkt der Steigung blickte Sano über die Schulter, um festzustellen, wie weit er gekommen war. Über dem Hafen stand ein elfenbeinfarbener Mond am Himmel, dessen Licht sich schimmernd auf den schwarzen Wassern spiegelte und die Umrisse der vor Anker liegenden Schiffe deutlich erkennen ließ. Dunkelheit senkte sich über den Strand; die
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