Die Staatskanzlei - Kriminalroman
verspürte nicht die geringste Lust, sich an die Lektüre zu machen. Ihr Pflichtbewusstsein obsiegte.
Spannend versprach die Lektüre nicht zu werden. Michael Schneider, Oberamtsrat in der Staatskanzlei, war vor knapp drei Jahren an einem kalten Januarmorgen in der Nähe des Leine-Einkaufzentrums in Laatzen zwischen zwei Straßenbahnwaggons geraten und tödlich verletzt worden. Wie er zwischen die Waggons gekommen war, ob es sich um einen tragischen Unfall handelte oder um Selbstmord, konnte laut Polizeibericht nicht geklärt werden.
Der Verunglückte war mit der Verwaltungsangestellten Maria Schneider verheiratet. Auch sie war berufstätig, Kinder hatten sie keine. Lustlos setzte Verena die Lektüre fort, ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Zu den bevorstehenden Weihnachtstagen und zu ihrer Mutter, für die ein Heimplatz gesucht werden musste. Und obwohl sie an ihn nicht denken wollte, ertappte sie sich immer wieder dabei, wie Ritters Gesicht vor ihren Augen erschien. Dann stolperte sie über einen Satz, genau genommen einen Halbsatz. Sie stutzte, las den Satz zweimal, dann dreimal. Nach dem vierten Lesen sagte sie: „Oh Gott, das ist sie!“
Ihr Herz schlug heftig und unregelmäßig, als sie mit der Akte unterm Arm in Stollmanns Büro stürmte. Vielleicht war er noch nicht unterwegs zu Mahow. Auf dem Flur wäre sie um ein Haar mit ihrer Mitarbeiterin zusammengestoßen „Ich wollte gerade zu Ihnen, mich verabschieden und frohe Weihnachten wünschen“, sagte Frau Schramm.
„Das kannst du vergessen, das Verabschieden meine ich. Am besten, du kommst gleich mit.“ Ohne auf den bestürzten Gesichtsausdruck ihrer Mitarbeiterin zu achten, stürmte Verena voraus. Sie hatte Glück. Stollmann war noch nicht ins Untersuchungsgefängnis aufgebrochen. Er telefonierte, beide Beine vor sich auf den Schreibtisch gestreckt, den Schreibtischstuhl weit zurückgelehnt. Den Wortfetzen entnahm sie, dass es um eine Verabredung zu einem Tennisspiel zwischen den Feiertagen ging. Verena bedeutete ihm mit einer ungeduldigen Geste aufzuhören. Er tat ihr den Gefallen.
„Was liegt denn an? Du wirkst aufgeregt.“
„Das bin ich auch.“ Verena reichte ihm die Akte. „Hier, lies selbst. Achte auf die gelb markierte Stelle.“
Er ließ sich Zeit, las die markierte Zeile mehrmals. Assistentin Schramm, die Verena gefolgt war, wippte ungeduldig mit den Füßen auf und ab. Dann pfiff Stollmann durch die Zähne. „Verdammt, warum haben wir die Akte erst jetzt bekommen?“
„Haben wir nicht. Sie liegt seit Tagen auf meinem Schreibtisch, ich bin nur noch dazugekommen, sie zu lesen. Du glaubst also auch, dass sie es ist?“
Stollmann setzte ein ernstes Gesicht auf. „Glauben trifft es nicht. Ich bin felsenfest überzeugt. Endlich der Durchbruch!“
Frau Schramm stand mit erstaunten Augen neben ihnen. „Kann mir irgendjemand sagen, worum es geht? Ich verstehe nur Bahnhof.“
Verena gab die gewünschte Auskunft. „Wir halten Maria Schneider für tatverdächtig. Sie lebt allein, ist geisteskrank und hat Verbindungen zur Staatskanzlei. Ihr Mann war Beamter der Staatskanzlei. Vor drei Jahren ist er tödlich verunglückt, vermutlich Selbstmord. Er sollte gegen seinen Willen versetzt werden. In der Akte ist von Stade die Rede. Der damals für den Unfall zuständige Dienststellenleiter war im Urlaub, weit weg von Deutschland, genauer gesagt in der Kapstadtregion. Nach seiner Rückkehr hat er von den Staatskanzleimorden erfahren und uns die Akte geschickt. Es war grob fahrlässig von mir, sie tagelang liegen zu lassen.“
„Unsinn“, knurrte Stollmann. „Der Kerl hätte ja auch mal anrufen können. Eine Mail an uns hätte es auch getan. Stattdessen schickt er kommentarlos die Akte. Das kommt davon, wenn man Polizeibeamte mit Verwaltungskram überschüttet.“
Verena warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Noch haben wir eine realistische Chance, die Ministerialbeamten am Arbeitsplatz anzutreffen. Aber wir müssen uns sputen. Ich werde jetzt umgehend in die Staatskanzlei fahren und mit dem Personalratsvorsitzenden reden. Ballauf weiß am ehesten, was damals passiert ist.“
An ihre Assistentin gewandt fügte sie hinzu: „Ruf gleich mal dort an und gib Bescheid, dass ich dringend mit ihm sprechen muss. Und du, Stolli, könntest in die Medizinische Hochschule fahren und mit dem Leiter der Psychiatrie sprechen. Dorthin ist sie nach dem Unfall eingewiesen worden.“
Als ihre Mitarbeiterin gehen wollte, hielt Verena sie zurück.
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