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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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die hohen schwarzen Schnürstiefel angezogen, die er sich in Italien für seine deformierten Füße hatte anfertigen lassen. Als Letztes hatte er den neuen weichen Filzhut aufgesetzt.
    Es war schön gewesen, seinen jungen Schützling Max Glaucous nach so vielen Jahrzehnten – sogar mehr als einem Jahrhundert – wiederzusehen. Während die Zeit weiter und weiter abspulte, schien sich die Vergangenheit jetzt aufzutürmen, Hügel und Täler zu bilden, so dass es schwierig wurde, Entfernungen und das Terrain überhaupt noch richtig abzuschätzen … Egal. Glaucous war stets ein produktiver Jäger gewesen, wenngleich er nach Whitlows Maßstäben oft ein bisschen grob und allzu leicht durchschaubar vorging.
    Whitlow hielt sich schon seit über einem Monat in Seattle auf, denn er hatte einen Zusammenfluss gespürt, die bevorstehende Vereinigung wichtiger Weltlinien. Was ja nicht verwunderlich war, da der Nachtfalter ihm die Gnade hatte zuteil werden lassen, einiges aus seinem schier unerschöpflichen Brunnen der Weisheit ans Licht zu befördern. Eine der zahlreichen Gaben des Nachtfalters bestand darin, dass er merken konnte, wenn andere sich einem Punkt näherten, an dem sie zwangsläufig Entscheidungen treffen mussten. Insbesondere waren das Punkte, an denen eine Konfrontation mit der Kalkfürstin
oder ihrem Personal unvermeidlich wurde. Dieses besondere Talent des Nachtfalters durfte man weder leichtfertig ignorieren noch bei Leuten wie Glaucous thematisieren.
    Whitlow wusste sehr wohl, dass er Glaucous besser nicht ins Gehege kam, wenn er jagte. Hielt er sich in derselben Stadt wie Glaucous auf, so ließ er ihn das aus guten Gründen nicht einmal wissen. Doch die Bleiche Gebieterin verlangte, dass er seinen Pflichten nachkam, und derzeit beherbergte Seattle mindestens zwei, wenn nicht drei Zielobjekte.
    Das dritte Ziel war nicht nur schwer dingfest zu machen, sondern warf auch Probleme auf. Einige in Whitlows Branche bezweifelten, dass ein Zielobjekt dieser Art überhaupt mit irgendwelchen Ködern zu locken war. Dennoch besaß dieses Jagdziel möglicherweise mehr Einfluss als eines der beiden anderen oder beide zusammen.
    Der schlechte Hirte.
    Schon seit Jahrzehnten beobachtete Whitlow in allen möglichen Städten der Welt aus der Ferne andere Jäger, ohne deren Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, oft auch ohne in deren Revier zu wildern. Denn die Kalkfürstin hatte ihm einige Monate nach dem Großen Krieg, dem Ersten Weltkrieg , eine besondere Aufgabe übertragen: den einen und einzigen Schicksalswandler zu finden, der nicht von der Stadt träumte, über die sie angeblich ewig wachte – in einer anderen Weltlinie. Whitlow hatte sich angewöhnt, stets einen Stab von Gelegenheitsarbeitern zu beschäftigen, die er mit Geld, Drogen oder beidem entlohnte. Eine handverlesene Gruppe von Leuten, die so lebten wie Insekten unter Steinen. Menschenscheue, argwöhnische Geschöpfe, die nichts mehr zu verlieren hatten als ihre eigene, kurze und schmerzvolle Lebensspanne. Etwa
fünfzig von ihnen, die er auf gut Glück verteilte, reichten in den meisten Städten aus. Schicksalswandler schienen stets lockeren Kontakt mit solch entwurzelten Menschen zu pflegen, so als würden ihre eigenen, überaus straff kontrollierten Weltlinien von diesen kürzeren, brüchigen Lebensfäden angezogen.
    Unter gewissen Umständen konnten sie sich sogar mit ihnen verbinden.
    Whitlow hatte das vor 634 Jahren miterlebt, in Granada. Hätten die Abmachungen geklappt, hätte er, getarnt als jüdischer Antiquitätenhändler, es damals geschafft, sich die anvisierte Beute zu schnappen, wären all diese folgenden Jahrhunderte überflüssig gewesen.
    Zu seinen Leuten gehörte auch dieser Fatzke namens Sepulcher. Er hatte ihn auf die Existenz eines Schicksalswandlers namens Jack hingewiesen, dessen sonstige Lebensumstände ihm nicht genau bekannt waren. Jack war die Beute, auf die Glaucous derzeit Jagd machte.
    Und vor kurzem hatte eine andere Kundschafterin in Whitlows Diensten ihm weitere Geschichten zugetragen. Sechs Straßenzüge ostwärts stand die magere, knochige Frau namens Florinda im Schatten eines Vordachs einer kleinen Buchhandlung und unterhielt sich mit einer dicken alten Frau. Die Alte hatte weißes Haar und ein rundes, von feinen Falten durchzogenes Gesicht, das Gesicht einer Raucherin. Als Florinda Whitlow kommen spürte, verrenkte sie den Kopf so, dass sich der Hals wie ein Seil zusammenschnürte. Ebenso verblüfft wie erwartungsfroh riss

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