Die Stadt am Ende der Zeit
Pseudogeographica ausgegraben. Wir wissen nur von einem einzigen anderen Band dieser Enzyklopädie: Es ist ein Inkunabel oder Wiegedruck, der 1432 in Toledo aufgefunden wurde. Gegenwärtig hält ihn die British Library unter Verschluss – und das aus gutem Grund, wie ich anfügen möchte.«
»Nur gut, dass wir das Buch nicht lesen konnten«, erklärte Farrah und streckte sich wie eine Katze. (Was Ginny daran erinnerte, dass sie Minimus und die anderen Katzen schon seit einigen Stunden nicht mehr gesehen hatte. Wahrscheinlich hatten sie sich Verstecke gesucht und würden so lange darin bleiben, bis sich das Chaos da draußen und hier drinnen, mit all den unbekannten Gästen, ein wenig gelegt hatte.) »Vielleicht wären wir dann durchgedreht.«
»Noch mehr als sowieso schon«, ergänzte Agazutta.
»Doch wem wäre das schon aufgefallen?!«, murmelte Ellen.
Bidewells Lachen war so locker und hatte so viele Nuancen wie ein gelungener Früchtekuchen. Trotz all seiner Erlebnisse musste Jack sich widerstrebend eingestehen, dass er anfing, den Alten zu mögen.
»Es genügt hier zu sagen«, fuhr Ellen fort, »dass wir alle Mr. Bidewell als gutaussehend, faszinierend …«
»… und reich einstuften!«, ergänzte Agazutta.
Bidewell blickte sich mit solcher Zufriedenheit im Zimmer um, dass es schon an Selbstgefälligkeit grenzte. So als hätte er es endlich geschafft, die lange ersehnte Familie um sich zu sammeln.
»Der Rest ist Geschichte«, sagte Ellen.
»Eine buntscheckige Geschichte«, bemerkte Farrah mit leichtem, halb unterdrücktem Gähnen.
»Und was heißt das?«, fragte Ginny.
»Geschichte kommt stets in zwei Farben daher. Alle anderen Menschen richten ihr ganzes Leben nach einer davon aus«, erklärte Agazutta. »Doch nach unserer Begegnung mit Mr. Bidewell haben wir auch die andere für uns entdeckt.«
»Und was hat all das mit mir zu tun? Oder mit ihr?« Jack deutete mit dem Kinn auf Ginny.
»Ich muss mich um unser Feuer kümmern«, unterbrach Bidewell und stand vom Tisch auf. »Es wird hier allmählich kalt. Jack, in der Kohlenschütte da drüben liegen Holzscheite und alte Zeitungen. Wir werden uns alle noch ein Glas Wein einschenken, und dann stoßen wir auf die verlorenen Erinnerungen an. Auf die Temps perdu – und das ist in diesem Fall recht wörtlich zu nehmen. Denn das ist das Gegebene, auf das
wir bald zu sprechen kommen werden: die Ordnung, der Zufall, die verlorene Zeit und die Bergung von Objekten, die niemals existiert haben und dennoch ewig existieren werden.«
Jack zog eine Zeitung aus der geschwungenen Kohlenschütte.
Alle Seiten waren leer.
53
Wallingford
Trübes Grau und staubige Schatten, die hin und her ziehen. Ein wie mit Glasur überzogener Himmel, der ständig dunkler wird. Wolken, die wie im Krampf zucken und an Tiere im Todeskampf erinnern – Tiere, die sich hin und her werfen und um sich treten.
Das schäbige, verlassene Haus im Mittelpunkt so vieler Leben, die Daniel bereits hinter sich hat, unsäglich trostlos …
Eiskalte Einsamkeit, die dadurch, dass er nicht allein ist, nur noch schlimmer wird. Jetzt muss er sich auch noch mit Whitlow herumschlagen.
Whitlow hatte Daniel auf der Veranda überholt und war vor ihm ins alte Haus getreten. Jetzt sah er ihn mit einem flüchtigen trockenen Lächeln über einen kurzen Abstand hinweg an. Beide hatten sie auf den zwei alten Stühlen Platz genommen, die auf dem mit Wasserflecken übersäten, verzogenen Fußboden standen, denn sie konnten nirgendwo anders mehr hingehen – genau wie die Uhren, die nicht mehr weitergingen und aufgehört hatten zu summen, zu surren, zu ticken.
»Lass uns über deine Zukunft reden, junger Schicksalswandler. « Trotz des geringen Abstands drangen Whitlows Worte nur verzerrt zu Daniel hinüber, gefolgt von einem Dutzend Variationen dieser Aufforderung, denn alle verbliebenen abgeschnittenen Schicksalsfäden versuchten sich zu vereinen. »Lass uns darüber reden, was jetzt, da du einen starken neuen Körper besitzt, auf dich zukommt … Ehe deine Erinnerungen wieder verblassen, was für Leute deines Schlags ja immer ein Problem darstellt …«
Whitlow hatte diese Sätze so oft wiederholt, dass Daniel das Mitzählen aufgegeben hatte. Es konnte keine passendere Strafe für all seine Sünden geben als das hier. Und dennoch konnte er die Steine nicht einfach wegwerfen und all dem ein Ende machen. Ihm war klar, dass die Steine in den Kästchen einen Schutzring um ihn bildeten, und er wollte nicht
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