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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Schicksal nicht verändern wollen. Ich dachte, das sei vorbei, ich hätte jetzt ein Zuhause. Aber die Träume kamen immer noch. Wie gesagt, damals zeichnete ich viel – das war in Ordnung, alle mochten bizarre Kunst. Alles Unheimliche, alles, was mit dem Tod zu tun hatte, galt als cool und Sterben als der größte Kick. Darüber wurde ständig gekichert. Und dann vergaßen sie das alles wieder. Dachten, ich sei eben erst hereingeschneit, und erzählten mir ihre Geschichten wieder und wieder.«
    Jack saß still da, damit sie alles herauslassen konnte.
    »Ich wäre irgendwann gestorben«, murmelte sie. »Aber dann tauchte diese … Person bei mir auf, diejenige, die die meisten der wirklich seltsamen Zeichnungen machte, wenn ich abwesend war und diese geistigen Aussetzer hatte. Sie kommt auch in meinen Träumen vor, glaube ich. Eines Tages hat sie eine Nachricht hinterlassen, in winzigen Blockbuchstaben, als hätte sie ein Kind geschrieben: Schlüpf wieder in die eigene Haut. Hau ab von hier. Vor uns liegt Arbeit. Und ich wusste instinktiv, was sie damit meinte. Was wir in diesem Haus taten, hatte nichts mit Liebe, nicht mal was mit Freundschaft zu tun. Es war so, als wäre ich zu einer Schnecke auf einem Gehweg geworden, die in Gefahr ist, von den Stiefeln irgendwelcher Passanten zertrampelt zu werden. Ich hatte keine Abwehrkräfte
mehr; meine Nerven lagen blank. Also gab ich das Haus auf, gab das X auf und alle meine Freunde. Nach ein paar Tagen suchte ich vor dem Schnee unter einer Brücke Schutz. Um mich gegen die Kälte zu schützen, hatte ich eine Zeitung dabei, und darin fand ich die Anzeige.« Sie deutete mit den Fingern An- und Abführungszeichen an. »›Träumen Sie von einer Stadt am Ende der Zeit?‹ Es war eine Telefonnummer angegeben.«
    Erneut zuckte Jack zusammen.
    »Auf meiner Handykarte war noch Guthaben, also wählte ich die Nummer, hauptsächlich, um die Zeit totzuschlagen. Wieder mal eine schlechte Entscheidung, nicht?«
    Jack zog einen Mundwinkel hoch.
    »So was passiert mir andauernd. Ich renne vor positiven Entscheidungen davon und auf die negativen zu. Die hier war die bislang schlechteste, glaube ich. Es kam ein Mann zur Brücke, um mich abzuholen. Er sah jung aus und asiatisch, Mitte dreißig vielleicht, groß und mager, aber fit, mit tief liegenden schwarzen Augen. Er fuhr einen alten grauen Mercedes. Auf dem Rücksitz saß jemand, eine Frau, die nach Rauch roch. Sie war verschleiert und sagte kein einziges Wort. Nachdem wir die Stadt verlassen hatten, bogen wir irgendwann von der Schnellstraße ab. Der Mann und ich stiegen aus und aßen in einem Diner zu Mittag, doch die Frau blieb im Wagen. Sie war aber nicht tot, denn ich konnte sie atmen hören. Nach dem Essen, als wir wieder auf der Schnellstraße waren, setzte sie den Wagen in Brand, doch der Typ hatte einen Feuerlöscher unter seinem Sitz. Er fuhr rechts ran, riss die Tür auf, brüllte sie an und besprühte alles mit Schaum. Sie wimmerte, sagte aber kein Wort.«
    Jacks Finger, die im Schoß lagen, verkrampften sich.
    »Zwar hielt ich ihn für jung, aber die winzigen schwarzen Augen wirkten alt. Die meiste Zeit über war er freundlich. Der Vordersitz war so schön bequem – beheizt und weich, aber trotzdem fest. Er führte Tricks mit seinem Silberdollar vor, mit einer Hand, während die andere am Steuer lag, ziemlich ausgeklügelt. Die Münze machte alles, was er wollte, so als wäre sie lebendig und er ihr Gebieter. Er merkte sich meine Geschichte – das, was ich ihm während der Fahrt erzählte. Wir hätten ewig so weiterfahren können, mit seinen Tricks und meinen Geschichten, vor uns die lange gerade Straße. Ich war so neben der Spur, dass ich alles einfach hinnahm, echter Schwachkopf, der ich war. Schließlich kamen wir an einem großen Haus an, das im Wald lag, nahe bei St. Paul. Überall waren Nutzhölzer und andere Materialien aufgestapelt, aber von Arbeitern war nichts zu sehen. Der Typ erzählte mir, sie hätten unter dem Haus ein Kellergewölbe mit dicken Wänden entdeckt, und dort sei es wirklich schön ruhig. Nachdem er mich dort untergebracht hatte, schlief ich erst mal zwei Tage durch. Es war wirklich still dort. Ich erholte mich, hörte auf, mit den Zähnen zu mahlen und mich in die Backen zu beißen. Ich dachte, ich hätte es gut getroffen und könnte mit der Zeit vielleicht lernen, Dankbarkeit und echte Liebe zu empfinden. Jeden Tag besuchte er mich, brachte mir Essen und was zum Anziehen, und ich wusste von

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