Die Stadt am Ende der Zeit
uns im Stich gelassen. Verzeihen Sie mir, wenn ich das sage, aber offenbar besitze ich das, was Sie brauchen. Und bitte entschuldigen Sie auch diese Frage, aber wer, zum Teufel, sind Sie überhaupt?«
54
Das grüne Lagerhaus
Die Damen des Literaturzirkels zogen sich mit Decken und Kissen, die Bidewell aus einer alten, mit Messing beschlagenen Holzkommode gekramt hatte, in einen abgelegenen Winkel zurück, in dem sie weitere Feldbetten aufgestellt hatten. Ihre Laternen warfen lange tanzende Schatten über die Wände und die Decke des Lagerhauses.
Ehe Bidewell sich in seine Privaträume zurückzog, holte er einen einzigen Band aus einem ansonsten leeren Bücherregal. Unten am Buchrücken war eine Zahl – oder das Erscheinungsjahr – aufgedruckt: 1298. Er blinzelte Jack und Ginny zu, klemmte sich das Buch unter den Arm, sagte ihnen gute Nacht und schob die Stahltür zu.
Es wurde still im Lagerhaus.
Ginny, der die Situation irgendwie peinlich war, warf Jack einen Blick zu und verkroch sich in ihre Nische.
Gemeinsam mit den Damen hatte Ginny Jack geholfen, ein paar Meter weiter einen Platz frei zu räumen. Danach hatten sie ihn mit einem Feldbett und Decken ausgestattet. Jetzt befand sich jeder in seiner eigenen kleinen Nische, abgetrennt von den anderen, aber beschützt. Und wartete ab.
Jack setzte sich auf den Bettrand und ließ die Schultern erschöpft sinken.
Ginnys Feldbett auf der anderen Seite des Stapels aus Kartons und Lattenkisten quietschte. Ihrer Einschätzung nach waren sie so weit von den anderen entfernt, dass niemand sie hören würde, wenn sie sich leise unterhielten. »Zeit für Gutenachtgeschichten? «, fragte sie im Flüsterton.
»Klar, fang du an.«
Sie ging um die Kisten herum, nahm einen Stuhl mit und setzte sich darauf, wobei sie die Knie aneinanderdrückte und die Füße, die in Stiefeln steckten, spreizte.
»Ich bin achtzehn. Wie alt bist du?«
»Vierundzwanzig.«
»Die Leute behaupten immer, ich sei ein Glückspilz, dabei stoßen mir ständig schlimme Dinge zu.«
»Vielleicht wären sie noch schlimmer, wenn du kein Glückspilz wärst.«
»Genau wie du hab ich auf die Anzeige geantwortet. Ich hab die Telefonnummer angerufen.«
»Mein Gott.«
»An manches kann ich mich nur noch mit Mühe erinnern. Ich kam aus Minneapolis. Dort wohnte ich in einem Haus voller Musiker, alles musikbegabte Leute, die Instrumente spielten
oder als DJs bei Raves auflegten. Jeder steuerte mit Gelegenheitsjobs was zum Unterhalt bei. Sie sagten, ich brächte ihnen Glück, denn wir bekamen immer bessere Gigs – Auftrittstermine – und wurden zu Black Sick Jams eingeladen.«
»Ist das was Gutes?«
Sie nickte. »Ich hab’s geliebt. Wir lebten frei und ungebunden, ernährten uns von Junk-Food, und ich hatte das Gefühl …« Sie sah Jack an.
»Da komm ich nicht ganz mit, aber erzähl ruhig weiter. Irgendwann bekomm ich’s schon auf die Reihe.«
»Eines Tages … Ich merkte, dass meine Freunde mich oft völlig vergaßen. Ich dachte, das müsse an den Drogen liegen.« Ihre Stimme und ihre Miene verhärteten sich. »Wir hingen in alten Häusern rum, redeten über Musik, Filme und Fernsehen – Dinge, die uns die Zeit vertrieben. Doch fast jede Woche kam es vor, dass sie sich so verhielten, als hätten sie mich eben erst kennengelernt. Sie erinnerten sich überhaupt nicht an mich. Manchmal tat das so weh, dass ich allein irgendwohin ging, aber ich war nicht gern allein. Ich fragte mich, was passieren würde, falls auch mir entfiel, wer ich eigentlich war. Damals zeichnete ich viel.«
Ihre Stimme wurde so hart, dass Jack zusammenzuckte.
»Sie zogen sich X rein – Ecstasy. Ich hab’s auch ein paarmal ausprobiert. Sie waren nämlich alle der Meinung, man sei irgendwie verkorkst, wenn man das nicht mitmachte, nicht fähig, sich wirklich auf Freundschaften einzulassen. Das Zeug machte mich sehr glücklich. Ich hatte nur noch liebevolle Gefühle und gab jedem alles, was ich hatte. All das Liebespotenzial in meinem kleinen Hirn leuchtete auf wie bei einem Flipperautomaten, wenn eine Kugel nach der anderen ins Ziel
trifft. Egal, wer vorbeischaute: Bei jedem spürte ich, wie mich dieser Liebessaft durchströmte. Ich war so dankbar … konnte meine Liebesgaben gar nicht schnell genug verteilen. Doch das zählte nicht. Sie vergaßen mich trotzdem.«
»Wow!«
Ginny musterte ihn vorsichtig. »Tja. Als ich mit ihnen zusammen war, bin ich kein einziges Mal zu einer anderen Weltlinie gesprungen, hab mein
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