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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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erfahren müssen, wie es sein würde, wenn er, wie Whitlow, an den Rand dieses Rings oder darüber hinaus geriet.
    Ich habe schon Schlimmeres überlebt, sogar das Schlimmste, was vorstellbar ist, glaube ich. Doch meine Erinnerungen sind trüber als das Chaos da draußen. Könnte ich doch nur irgendeinen klaren Gedanken fassen! Könnte ich doch nur irgendeinen Schritt tun, egal welchen …
    Er besaß immer noch einen Funken Hoffnung.
    Deshalb hielt er sich an den Kästchen fest. Zumindest würde er nicht unter Hunger und echten Schmerzen leiden müssen. Er konnte hier sitzen bleiben, ohne sich zu rühren, jeden Gedankengang wieder und wieder in leicht abgewandelter Form verfolgen, wobei die Unterschiede so gering sein würden, dass ein außenstehender Beobachter sie gar nicht bemerken würde … Denn kraft des Terminus war Whitlow im Augenblick
blockiert, vielleicht sogar endgültig außer Gefecht gesetzt. Die Marionette, die Daniel gegenübersaß, mühte sich so ab, als wäre sie an den Zeigern einer kaputten Uhr befestigt. »Lass uns darüber reden … was unsere Bleiche Gebieterin mit dir vorhat … mit einem so wunderbaren jungen Verräter ganzer Welten …«
    Daniel lehnte sich zurück und streckte die Kästchen auf Armlänge hinter sich, um den Schutzring etwas weiter von Whitlow fernzuhalten. Sofort verlangsamten sich die Bewegungen der Marionette, und sie verstummte so lange, bis Daniel den Arm wieder vorstreckte, weil er prickelte. Die anderen Männer, Whitlows Partner, die sich in dem vibrierenden Chaos da draußen verloren hatten, würden ihrem Chef nicht zu Hilfe kommen können, sie würden niemals hier auftauchen. Und auch vom Nachtfalter, was immer dieses Geschöpf sein oder gewesen sein mochte, fehlte jede Spur.
    Während Daniel Luft holte und husten musste, wurde ihm klar, dass jede Gewissheit, selbst die bevorstehender Vernichtung, diesen ziel- und endlosen Zeitschleifen vorzuziehen war.
    Seine Fühler waren zwar abgestumpft, angesengt und traumatisiert, aber immer noch so empfindlich, dass er wusste, das hier konnte nicht alles sein. Irgendwo existierte ein Zufluchtsort. Hätte Whitlow ihn nicht aufgespürt, wäre er vielleicht rechtzeitig genug dorthin gelangt, um diesem Chaos zu entgehen. Hier steckte er fest, wenn er auch noch nicht gänzlich erstarrt war, und saß einem Vertreter der Nemesis gegenüber, der kaum noch Biss hatte … es aber dennoch fertigbrachte, Daniel mit seinen ständig wiederholten Drohungen und hinterhältigen Plänen so zu langweilen, dass er demnächst ausrasten
und losbrüllen würde. Es war so, als tropfe unablässig dünne Säure auf unzählige Meter entblößter Haut.
    »… ehe die Erinnerungen an deine früheren Heldentaten verblassen und ein dreister, missgünstiger neuer Verstand sie sich einverleibt. Die Kalkfürstin setzt solche Hoffnungen auf dich …«
     
    Irgendetwas war jetzt anders.
    Daniel fuhr ein Schauer über den Rücken, denn in der Atmosphäre des Zimmers hatte sich unverkennbar etwas verändert. Allerdings war ihm nicht klar, wie er das in seinem gegenwärtigen Zustand hatte bemerken können oder warum ihm überhaupt irgendetwas aufgefallen war. Dennoch spürte er es: eine Lockerung der Atmosphäre. Irgendetwas Mächtiges zerrte an den lädierten Fäden, schüttelte sie, presste ein paar letzte Stunden aus ihnen heraus, die einem logischen Zeitablauf folgen würden und deshalb dazu geeignet waren, irgendetwas zu unternehmen.
    Jemand würde etwas unternehmen.
    Ein Klopfen an der Tür, das Daniel scharf und schmerzhaft in die Ohren drang. Er zwang sich dazu aufzustehen und war verblüfft, dass er sich aufrecht halten konnte.
    Whitlows Blicke folgten ihm; sein weißes Gesicht zuckte so, als hätte man einen Stromstoß durch einen Leichnam gejagt, doch mehr vermochte er nicht auszurichten.
    Daniel überquerte den feuchten Fußboden und machte die Tür auf. Der Krach und das Getöse da draußen warfen ihn fast um. Es war so, als lösten sich Lawinen von Gletschern, als krachten Berge ineinander, als schnitten riesige Messer durch den Himmel.
    Als prallten Welten – Geschichten – aufeinander.
    Unmittelbar vor der Tür kauerte ein unförmiger Schatten, der sich gleich darauf aus dem Chaos löste und sich mit gewaltiger Willenskraft ins Haus drängte.
    »Brauche etwas Hilfe«, erklärte ein gedrungener, kräftiger Mann, streckte die Hände aus und griff mit den fleischigen Fingern ins Leere. Sein grauer Anzug war tropfnass. »Die Königin in Weiß hat

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