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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Anfang an, dass er nicht an Sex interessiert war. Er hatte Achtung vor mir. Ich fühlte mich wohl dort. Er war gut zu mir. Und meine Träume hörten auf.«
    Ginny hatte zu zittern begonnen. Anfangs war es nur ein leichtes Zucken gewesen, doch jetzt schlugen ihre Zähne aufeinander. Jack wollte nach ihrem Arm greifen, doch sie zog ihn weg.
    »Bei seinem letzten Besuch sagte er, wir würden einen Spaziergang machen, also stiegen wir die Kellertreppe hoch. Draußen war es sehr windig und kalt, unter dem Gefrierpunkt. Die Luft roch nach Schnee. Mir fiel auf, dass das Haus weder mit Holz- noch mit Teppichböden ausgestattet war, es war nur mit Sperrholz verschalt. In Wirklichkeit war es einfach ein altes verlassenes Haus, das niemals fertiggestellt worden war. Er sagte, wir würden uns mit der Königin treffen.«
    Jack löste die verkrampften Hände, damit er sich nicht die Finger quetschte.
    »Er sagte, die Königin bezahle ihn dafür, besondere Menschen zu finden. Irgendwie fiel mir plötzlich auf, dass er ziemlich schäbige Kleidung trug, also konnte sie ihm nicht viel zahlen. Und inzwischen sah auch seine Haut alt aus. Ich dachte, ich sei vielleicht auf einen echten Vampir gestoßen – einen echten armen Vampir.« Ginnys Stimme war kaum noch ein Flüstern, so dass Jack sie nur noch mit Mühe verstehen konnte.
    Im Lagerhaus knarrte es. Irgendwo miaute eine Katze. Das Miauen hallte vom Dachgebälk so wider, als wären Dutzende von Katzen unterwegs.
    »Er hatte genauso Angst vor dem Wald wie ich. Mir war klar, dass die Königin nicht die Frau sein konnte, die zündelte, denn als wir auf die Bäume zugingen, kamen wir am Wagen vorbei. Der war dort einfach geparkt, auf der ungepflasterten Zufahrt. Die Frau saß hinten, und aus einem offenen Heckfenster trieb Rauch. Ich sah, wie sich ihr Schleier bewegte. Sie blickte mich direkt an, aber ich konnte ihre Augen nicht sehen.«
    »Und du bist nicht weggelaufen?«
    »Ich konnte es nicht. Ich konnte nicht einmal daran denken, zu einer anderen Weltlinie zu springen, denn ich wusste, die
Frau im Wagen würde alles in Brand setzen, ohne den Rücksitz auch nur verlassen zu müssen. Ich sah es fast vor mir: Hunderte kleiner Feuer, die aus dem Himmel fielen. Falls nötig, würde sie auch den Wald abfackeln, das Haus und jeden möglichen Fluchtweg, jeden Ort, den ich zu erreichen versuchte.«
    »Die haben das Feuer so eingesetzt wie bei mir die Wespen. «
    Ginny sah mit gesenktem Kinn kurz nach links. Es war ein trotziger Blick: Sie kämpfte damit, all das offen auszusprechen. »Ich frage mich, wie viele von denen da draußen sind, um uns zu jagen.«
    Jack legte den Kopf schräg. »Keine Ahnung.«
    »Fünf oder zehn Minuten lang gingen wir zwischen den Bäumen hindurch. Ich hatte das Gefühl, im Kreis zu gehen, in einem großen Kreis, denn immer wieder kamen wir an einem dunklen See voll grüner Entengrütze vorbei. Ringsum wurde alles dunkel. Niedrige schwarze Wolken brauten sich zu einem Unwetter zusammen, und es fing an zu blitzen.«
    »Kamen die Blitze von der Seite?«
    Ginny nickte. »Dann sagte er etwas von einem Nachtfalter. Vielleicht bezeichnete er ihn auch als den Nachtfalter. ›Gleich kommt der Nachtfalter, um dich der Königin vorzustellen.‹ Die Bäume … mir fiel auf, dass ihre Äste nach unten wuchsen, in den Boden hinein. Die Blätter bewegten sich von ganz allein. Das heißt, eigentlich bewegten sie sich gar nicht, sondern veränderten nur ihre Form, wurden größer oder kleiner, verlagerten sich nach rechts oder links, aber ohne sich zu rühren, denn die schwarzen Bäume waren so massiv wie erstarrter Teer. Jedes Mal, wenn sich ein Baum zu bewegen schien, hatte ich den Eindruck, dass er sich in einen anderen Baum verwandelte. Ich
weiß nicht, wie ich beschreiben soll, was mit den Bäumen nicht stimmte. Der Mann mit der Münze hatte offenbar genauso viel Angst wie ich. ›Die Königin in Weiß duldet keine Fehler‹, sagte er. ›Das macht einen Teil ihres Liebreizes aus.‹ Ich fragte ihn, wie alt er sei und wie alt die Königin. ›Welch seltsame Frage‹, erwiderte er. Ich glaube, ich sah noch einen weiteren Mann, der eigentlich keiner war. Die Erscheinung streckte sich nach oben und zur Seite, bis ich geradewegs durch sie hindurchsehen konnte. Schließlich gelangten wir zur Waldesmitte. Ich wusste, es war die Mitte, aber wir hatten den Kreis nicht verlassen. Vielleicht war der Pfad eine Art Spirale, allerdings eine besondere, denn sie drehte sich zwar nach

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