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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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die hohen Fenster auf die drei verbliebenen Bione der Kalpa zu blicken. Der Übergriff des Chaos hatte das unterste Niveau des ersten Bion, dessen Grundmauern die Ebenen umschlossen und auf dessen abgerundeter Spitze der Zerstörte Turm stand, schwer beschädigt. Auch auf dem südlichen
und auf dem nördlichen Bion hatte der Überfall verheerende Folgen gehabt. Von beiden Bionen stiegen Unheil verkündende silberne Rauchspiralen empor, die bis zu den Grenzen der inneren Drucksperre reichten. Und jenseits der Grenze des Realen rückten die monströsen Erscheinungen weiter vor, als wärmten sie sich am Feuer der Zerstörung, das die Kalpa heimgesucht hatte. Der ewig rotierende Strahl des Zeugen drehte sich jetzt schneller, und die Substanz des Beobachters, ein riesiger Berg erstarrten Fleisches – früher einmal menschlich, jetzt alterslos und unfähig zu Mitgefühl –, drängte sich in Erwartung weiterer Opfer immer näher an den inneren Kreis der Verteidiger heran.
    Stets hatten die heftigsten Angriffe mit dem größten Zerstörungspotenzial den Ebenen gegolten. Jetzt fragte Ghentun sich, ob ein Grund dafür das Geschöpf war, das neben ihm schwebte. Ihm war klar, dass der Typhon seit Einrichtung der Ebenen die Stadt so erforscht hatte, als wüsste er etwas Bestimmtes – falls ein Phänomen wie der Typhon überhaupt über Wissen verfügen und planmäßig vorgehen konnte. Er wandte den Blick vom Zeugen ab und sah nach Osten, hielt nach den Teilnehmern des letzten Marsches Ausschau und hoffte dabei, dass sie noch vor dem endgültigen Zusammenbruch der Stadt, vor dem Sieg des Typhon würden aufbrechen können.
    Jahrmillionen hatte der Bibliothekar herumgetrödelt. Allerdings hatte er einen unermesslich scharfen Verstand – wie hätte Ghentun ihn kritisieren oder auch nur begreifen sollen? Dennoch hatte der Bibliothekar nie einen für Ghentun erkennbaren Plan offenbart, jedenfalls keinen, den ein Instandsetzer oder Nachgezüchteter hätte nachvollziehen können. In Wirklichkeit stand er selbst, Ghentun, auf keiner höheren Stufe als
seine Schützlinge, war auch nichts Besseres als dieser ungestüme, im Hort herangezüchtete Jugendliche, der trotz aller Täuschungsmanöver und ihm bewusst in den Weg gestellten geistigen Barrieren auf dem eigenen Standpunkt beharrt hatte.
    Wie die Instandsetzer – wie er selbst – kannten auch die Nachgezüchteten der alten Art Schamgefühl, so als ob ihre urzeitliche Substanz sich ein Erbe dieser uralten Empfindung bewahrt hätte. Doch den Großen Eidola war dieses Gefühl längst abhanden gekommen.
     
    Ein Angelin näherte sich. Zuerst tauchte es als winziger silberner Fleck jenseits der Raummitte auf, dann plötzlich ganz in der Nähe, nur einige Schritte entfernt. Wie bei der ersten Begegnung hatte es eine blassblaue weibliche Gestalt und reichte Ghentun nur bis zum Knie. Doch diesmal wollte es sich offenbar lieber mit kleinen Schritten nähern, als durch den Raum zu fliegen oder zu schweben. Vielleicht war es dasselbe Angelin, mit dem er schon einmal gesprochen hatte, vielleicht auch nicht. Identitäten spielten bei dieser Gruppe von Dienstboten kaum eine Rolle.
    Als Ghentun seinen Schützling anstupste, hob Jebrassy den Kopf, blinzelte, blickte sich um, verharrte jedoch in Embryonalstellung, als wolle er diese letzten Momente der Wärme und des Wohlbefindens noch auskosten.
    »Ehre dem Bibliothekar«, trällerte das Angelin mit einer Stimme, die an rieselndes Wasser erinnerte. »Ist das Experiment abgeschlossen?«
    »Ja.«
    »Und du hast das angeforderte Exemplar von den Ebenen mitgebracht?«
    »Ja. Verlangt der Bibliothekar, dass ich anwesend bin?«, fragte Ghentun und erwartete ein Nein.
    »Du wirst den jungen Nachgezüchteten begleiten.«
    Jebrassy streckte die Beine aus und sank langsam bis zum Saum des Umhangs. Unter den Blicken des Hochgewachsenen stand er aus eigener Kraft auf, wandte sich um und starrte ehrfürchtig auf die wenige Schritte entfernte blaue Gestalt, die eisige Kälte ausstrahlte, so dass er trotz des schützenden Umhangs fror.
    Über Verwirrung oder Angst war Jebrassy längst hinaus. Jetzt konnte alles Mögliche geschehen. Fast hoffte er darauf – was es auch sein mochte –, damit das Warten ein Ende hatte. Als ihm Tiadba einfiel, lief ihm ein Schauer über den Rücken, denn ihm wurde klar, dass er nichts mehr mitbekommen hatte und eben erst aus einem seltsamen Schlaf erwacht war. Wie lange hatte er geschlafen? Und wo war Tiadba? Hatte der Sog des

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