Die Stadt am Ende der Zeit
leicht verändert, aber es ansonsten nicht angetastet. Eingerahmt wurde der bläuliche Schimmer von den massiven Bauten der beiden Sportstadien, deren Stahl- und Betonwände, Dächer und Arkaden jetzt wie die Blätter im Garten zusammenschrumpelten. Als Daniel hinüberdeutete, nickte Max bestätigend und wischte sich mit dem verdreckten Taschentuch erneut übers Gesicht.
Sie stolperten weiter.
63
Eingehüllt von der Wärme des Eisenöfchens und eingelullt von Bidewells stetem, leierndem Redefluss, waren Farrah und Ellen irgendwann eingenickt. Doch Miriam und Agazutta waren genau wie Jack und Ginny wach geblieben und hörten aufmerksam zu.
»Ich habe Bücher gesammelt, die Mnemosynes unvollendete Arbeit widerspiegelten, vor allem vergessene Werke, vergraben in Bibliotheken und oft auch in Buchantiquariaten. Texte, die lange Jahre niemand mehr gelesen hatte. Wenn ein Buch von vielen Menschen gelesen wird, zählt es zu den Ersten, deren Konsistenz und Kohärenz Mnemosyne wiederherstellt. In Bestsellern wird man nur wenige Ungereimtheiten entdecken! Hätte ich mich als Fossilienjäger oder Geologe betätigt, wäre ich vermutlich auf ähnliche Kuriositäten gestoßen, doch ich bin immer schon ein Büchermensch gewesen.«
»Warum sind Beobachter etwas Besonderes?«, fragte Ginny, um Bidewells steten, bedächtigen Redefluss wieder auf das zu lenken, was sie am meisten interessierte.
»Eine simple Weltlinie, sagen wir ein Atom, das durch das Vakuum des Raums schwirrt, wird man nur registrieren, wenn es auf etwas anderes trifft. Aber Beobachter haben Augen, Ohren, Nasen – und Finger! Unsere Sinne sammeln und bündeln weit voneinander entfernte Weltlinien auf äußerst komplizierte und aufwendige Weise. Und natürlich vermitteln wir auch Wissen über große Entfernungen hinweg, indem wir reden, Geschichten erzählen und Bücher schreiben. Einige unserer Schicksalsfäden erben wir – weitgehend bestimmt von
den mendelschen Regeln – von unseren Eltern, doch im Grunde hat unser Schicksal weniger mit unseren Genen zu tun als damit, wohin wir uns wenden, was wir sehen, hören, lesen und lernen. Ständig beeinflussen uns Wörter und Texte. Texte sind etwas Besonderes, jeder Text, in jeder Sprache, die Sprache an sich.«
»Das verstehe ich«, warf Jack ein. »Wenn ich mich in die Zukunft vortaste, weiß ich nur von den Dingen, die ich selbst erleben werde. Und dann versuche ich, mich vom Sog negativer Gefühle fernzuhalten. Ich weiß dabei eigentlich nicht, was andere Menschen tun oder tun werden. Nur was ich selbst empfinden werde, und ein wenig davon, was ich sehen werde. So als ob die Gefühle, die meine künftigen Versionen empfinden werden, entlang der Weltlinien zu mir zurückströmten. «
Bidewell lächelte zustimmend.
Ginny ging es um dringlichere Probleme. »Aber wie kann die Geschichte einfach so an uns vorbeitreiben? Sind ihre einzelnen Abschnitte dazu nicht viel zu groß? Wie können sie umeinandergleiten, wenn sie alle wie Perlen an einer Kette aufgereiht sind? Das verstehe ich einfach nicht.«
»Ausgezeichnete Frage. Eine Bruchstelle kann entlang von Schicksalsfäden auftreten oder sich auch quer durch Schicksalsfäden ziehen, die durchgescheuert oder ausgefranst sind. Manchmal wollen sich solche Bruchstücke von Fäden dann über weite Zeiträume und Entfernungen hinweg miteinander vereinen, sie ›gleiten umeinander‹, wie du es ausdrückst. Dabei kann es passieren, dass sie genau die Schnüre oder Stränge, an denen deine – unsere – Perlen aufgereiht sind, dazu nutzen, sich miteinander zu verbinden.«
»Und dann schichtet sich alles übereinander, wie Holzstämme, die sich im Wasser stauen.«
»Es scheint so. Die Texte haben uns geschützt – bis zu einem gewissen Grad. Aber vor allem behüten uns eure Integralläufer, denn sie bilden eine Art Blase um uns, zumindest bis der Rest der zerstörten Welt sich auflöst. Dann werden wir möglicherweise Wunder und Gräuel in entsetzlichem Ausmaß erleben.« Bidewell zog die Schultern hoch. »All das übersteigt mein Begriffsvermögen. Ich komme mir ganz armselig vor.«
»Endlich mal«, bemerkte Agazutta schläfrig.
Bidewell schenkte sich noch ein Glas Wein ein. »Es ist die zweite Schwester, die ausgerastet ist. Diejenige, die bleicht und auslöscht. Sie hat sich von allen Vertäuungen gelöst, die in der Zukunft liegen … Wurde dazu gezwungen oder dafür gewonnen, bei der Jagd auf alle Menschen mitzumachen, die Träger dieser wunderbaren Steine
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