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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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sind. Für uns ist sie kaum noch wiederzuerkennen, und sie war schon früher grausam genug. Doch bislang hat sie stets gedient, während sie jetzt durchsetzen will, dass alle nur noch ihr dienen. Eure Integralläufer haben euch vor der Auslöschung bewahrt, aber sie schützen nicht jeden, schützen nicht alle Menschen, die ihr kennt und liebt. Ich würde darauf wetten, dass ihr beide Waisen seid und keiner von euch je Unterlagen über seine Geburt oder seine Eltern finden konnte, obwohl ihr euch so deutlich an sie erinnert. Genau dafür sorgen die Integralläufer: Sie verwischen eure Spuren, aber im Gegenzug habt ihr die Gabe erhalten, euer Schicksal zu wandeln. Und schließlich habt ihr zu träumen begonnen, eure Fühler ausgestreckt und Verbindung mit anderen Auserwählten aufgenommen, die vermutlich weit von euch entfernt sind, am Ende der Zeit, wie wir gehört haben. So
viel habe ich inzwischen herausgefunden, doch natürlich bleiben viele Rätsel ungelöst.« Er blickte auf sein Glas, das schon wieder fast leer war.
    Ginny war bestürzt. Während sie schweigend dasaß, versuchte sie sich an ihre Mutter und ihren Vater zu erinnern. Ihre Lippen zitterten bei dem Gedanken, dass sie selbst das letzte Zeugnis dafür darstellte, dass ihre Eltern je gelebt hatten. Alles andere war spurlos verschwunden.
    »Die zweite Schwester …«, fuhr Bidewell fort, wurde aber von einem schrillen Klingeln unterbrochen, das quer durchs Lagerhaus drang. Alle sahen auf. Bei Bidewell traten vor innerer Anspannung die Adern an den Schläfen hervor, und seine Zähne schlugen aufeinander. Jack starrte ihn an. Zum ersten Mal entdeckte er Angst in dem alten Gesicht. Die dösenden Frauen rissen die Augen auf. Niemand im Raum rührte sich.
    »Die letzten Menschen auf Erden saßen allein in einem Zimmer«, sagte Miriam trocken. »Da klopfte es an die Tür.«

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    »Wir dürfen die Damen nicht merken lassen, dass wir beunruhigt sind«, ermahnte Bidewell Jack, als sie sich zwischen den hohen Kistenstapeln hindurchschlängelten. »Das hier kommt nicht ganz überraschend. Schließlich verfügen wir nur über zwei Integralläufer, und drei sind, soweit ich weiß, das erforderliche Minimum.«
    Jack folgte ihm durch die Außentür auf die Rampe. Bis auf Ellens Toyota war der Parkplatz leer. Hinter dem Zaun hatten sich Kohlenstaubteilchen zu Wolken zusammengeballt, die sich – ähnlich wie Farbe auf feuchtem Papier – immer weiter über die Fläche verteilten, die früher die Stadt Seattle eingenommen hatte.
    Das Einzige, was Jack deutlich erkennen konnte, war ein rußiger Finger, der durch den Zaun langte und auf den Klingelknopf drückte.
    Bidewell ging die Rampe hinunter. Als er das Tor erreicht hatte, kristallisierten sich die Umrisse von zwei Gestalten aus dem düsteren Umfeld heraus. Mit gefalteten Händen, die Ellbogen nach außen gestreckt, blieb Bidewell stehen; er zögerte, irgendetwas zu sagen oder zu unternehmen. Jack gesellte sich zu dem alten Mann. Beide blickten schweigend durch den Maschendrahtzaun.
    Ein schmutziges blasses Gesicht, das älter als das von Jack wirkte, allerdings nicht mehr als zehn Jahre, schälte sich nach und nach aus der Dunkelheit, zuerst die Augen, dann die Nase, die Wangen und die Lippen – weiche, regelmäßige Gesichtszüge, jetzt verhärtet durch Angst und Erschöpfung. Scharf blickende, aufgeweckte Augen.
    »Einen kann ich sehen«, sagte Bidewell. »Wer ist der andere? Treten Sie vor, alle beide.«
    Eine breite, kürzere Silhouette löste sich aus dem Schatten und baute sich neben der anderen Gestalt auf: ein stämmiger, starker Mann, wesentlich älter als sein Begleiter. Er hatte einen völlig verdreckten grauen Tweedanzug an. Jack, der den Gestank zu Tode erschrockener Vögel und verängstigter Kinder fast an ihm riechen konnte, wich knurrend zurück.
    Bidewell kniff die Augen zusammen. »Mr. Glaucous? Sie sind es doch, oder nicht?«
    »Lassen Sie uns herein«, grunzte der Angesprochene. »Haben Sie Erbarmen mit uns, schon um der alten Zeiten willen. Wir müssen uns unbedingt aufwärmen und ausruhen. Sind Sie Bidewell, Sir? Conan Arthur Bidewell, früher in Manchester und Leeds, Paris und Triest tätig? Zeigen Sie Anstand, lassen Sie uns herein, nachdem wir so viel Entsetzliches hinter uns haben. Wir sind geradewegs durch die Hölle gegangen. Außerdem komme ich nicht mit leeren Händen, sondern bringe jemanden mit, der für Sie von großem Nutzen sein wird. Und Nachrichten. Zwar sind es entmutigende

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