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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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das Gesicht, das Jebrassy von nun an als das des Bibliothekars identifizieren würde, wie unstimmig diese Gleichsetzung auch sein mochte. Denn der Bibliothekar schien ringsum zu existieren, überall im Turm präsent zu sein, verteilt auf sämtliche weiße Gestalten. Und er lenkte auch die Angelins und vermutlich noch weitere Erscheinungen, die Jebrassy bislang noch nicht kennengelernt hatte. Waren die weißen Gestalten seine ferngesteuerten Arme und Beine und die Angelins eher seine Bediensteten? Jebrassy musste noch so vieles in Erfahrung bringen. Es frustrierte ihn, dass er nicht einmal die richtigen Fragen zu stellen vermochte.
    Der Bibliothekar sprach mit derselben Stimme wie zuvor, nur klang sie jetzt bodenständiger, irgendwie realer und direkter. »Du hast Geduld bewiesen, eine Eigenschaft, die ich schätze.«
    »War ja nicht schwer, da ich die meiste Zeit geschlafen habe.«
    »Du hast dich bewundernswert erholt. Es gibt so vieles, das heilen muss. Früher einmal habe ich mir absichtlich eine
schlimme Verletzung zugefügt und anschließend geschlafen, nur um mir selbst die Zeit zu geben, ein Problem anzugehen, das bis dahin nie gelöst worden war.«
    »Was für ein Problem war das?«, fragte Jebrassy, obwohl er davon ausging, dass er sowieso keine plausible Antwort erhalten würde.
    »Auf welche Weise das Universum sterben wird und welche Möglichkeiten sich durch diesen Tod auftun. Damals lebte ich nicht in der Kalpa, sondern am anderen Ende des Universums. Dort lernte ich von anderen Meistern, die zwar nicht zur menschlichen Gattung gehörten, aber durchaus natürliche Geschöpfe waren, allerdings dem Untergang geweiht … Sie wollten nicht zur Erde zurückkehren, und das Chaos hat sie sich einverleibt. Deshalb sind wir hier, mein junger Freund. Komm näher und wirf einen Blick auf das, was außerhalb unserer armen Stadt liegt.«
    Jebrassy richtete sich zu voller Größe auf. Alles, was er bis jetzt vom Chaos gesehen hatte, war der seltsame graue Strahl, der durch die hohen Fenster blitzte.
    Vielleicht ist sie bereits da draußen …
    Als sie sich nebeneinander stellten – sie hatten fast dieselbe Größe –, schafften sie es knapp, über den untersten Fensterrahmen nach draußen zu blicken.
    »Es ist beängstigend, doch es wird dir nicht schaden. Hier drinnen nicht«, sagte der Bibliothekar. »Während der letzten Schlaf-Wach-Zyklen hat es sich verändert. Radikaler verändert, als irgendjemand von uns es je erlebt hat, seit das Chaos die Kalpa umzingelt hat.«
    Es gab eine Art Horizont, der sich mit dem Ausläufer des Kanals jenseits der Ebenen ungefähr zu decken schien. Doch
dort, wo der künstliche Himmel normalerweise in Dunkelheit überging, befand sich jetzt etwas anderes, ein offener Himmel. Nur wirkte dieser Himmel völlig bizarr. Er bestand aus einem Gewebe, das wie zerknittert wirkte, und in den Knitterfalten brannte ein schwaches purpurrotes Feuer, das hier und da verschwand, um an anderen Stellen wie glimmende Kohle wieder aufzutauchen.
    »Es mag nicht, wenn man es betrachtet«, bemerkte Jebrassy.
    »Wie wahr, wie wahr. Das Chaos mag keine Beobachter.«
    Unterhalb des Horizonts und des zerknitterten brennenden Himmels konnte Jebrassy, wenn er den Blick konzentrierte, einen Wust von Umrissen ausmachen. Es mochten weit entfernte zerstörte Gebäude sein, Reste uralter Städte, vielleicht aber auch nur Gesteinstrümmer und aufgehäufter Schutt. Er hatte keinen Vergleichsmaßstab, mit dem er die Dimensionen hätte abschätzen können. Wie groß und wie hoch waren diese seltsam verteilten Objekte? Und wie viele davon gab es? Wie weit waren sie von der Linie zwischen »Himmel« und »Boden« entfernt? Seine Augen schafften es offenbar nicht, sich zu fokussieren. Manchmal tauchten Einzelheiten auf, verschwanden jedoch blitzartig wieder und waren so schwer zu fassen wie Staubpartikel.
    Der Bibliothekar fasste ihn an der Schulter. »Genau das wird deine Gefährtin bald sehen.«
    »Dann ist sie noch gar nicht fort?«
    »Du wirst sie begleiten. Doch erst müssen wir in Erfahrung bringen, ob wir ein großes Problem lösen konnten. In Anbetracht dieses Problems bin ich seit eh und je genauso demütig und von Bürden geplagt wie eines eurer Lasttiere da unten in den Ebenen.«
    »Du hast ja keine Ahnung, wie einfältig Pedes sein können.«
    Der Bibliothekar legte einen Finger an die Nase. »Nach den Maßstäben meiner Welt bin ich vielleicht genauso einfältig. Schau hin, stell mir Fragen. Ich werde

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