Die Stadt am Ende der Zeit
sagte Miriam.
Bidewell schwenkte sein Glas und richtete den Blick auf die herumwirbelnde rote Flüssigkeit. Einen Moment lang schien sich Ginnys Sicht zu trüben: Ihr kam es so vor, als zische das Glas mit dem Rotwein an ihr vorbei.
»Jedes kleine Ding hinterlässt eine ganz eigene Spur«, begann Bidewell. »So viel wissen wir intuitiv. Wir können uns bildlich vorstellen, dass alles eine Spur hinterlässt. Manchmal nennen wir das Weltlinien. Aber Weltlinien fließen in andere Weltlinien ein, und manche verbinden sich zu einer Linie des Beobachters, die wir auch als Schicksal bezeichnen. Das Schicksal eines Beobachters bringt viele Linien zusammen, die einander andernfalls vielleicht nie berührt hätten, und das schafft Probleme – Verstrickungen. Noch verblüffender ist, dass nicht alle Weltlinien, nicht einmal alle Schicksale mit ihrem Anfang verknüpft sind. Die Schöpfung beginnt nicht immer am Anfang. Die Schöpfung ist – oder war – ein ständiger Prozess, bei dem unentwegt neue Dinge auftauchen. Und manches Neue impliziert lange und verwickelte Geschichten. Diese Neuschöpfungen und ihre Geschichten müssen mit dem zusammengeführt werden, was vorher da war. Deshalb brauchen wir Mnemosyne. Sobald sie zum Leben erwachte – ein höchst bemerkenswertes Ereignis, vielleicht aber auch nur ein nachträglicher metaphysischer Einfall, wer weiß das schon? –, nahm sie ihre Arbeit auf. Sie suchte nach verschollenen Linien, entwirrte Widersprüche und begann damit, ein neues Gewebe zu schaffen, indem sie diese Linien mit ihren Anfängen zusammenführte. Metaphorisch gesprochen, räumte sie auf, katalogisierte
und verfrachtete alles wieder auf dem Regal – eine gewaltige Aufgabe, die sie zweifellos noch nicht zu Ende gebracht hat, die Arme.
Die Erschaffung von Neuem setzt stets die Zerstörung von Altem voraus. Nicht alles, was jemals erschaffen wurde, bleibt Teil der Schöpfung. Manches wird ausgelöscht. Deshalb, so nehme ich an, braucht Mnemosyne jemanden, der sie ergänzt, eine Zwillingskraft, nennen wir sie Kali. Allerdings bin ich ihr glücklicherweise nie begegnet. Kali beseitigt Dinge, die mit nichts anderem mehr verbunden sind oder abgetrennt wurden. Dinge, die Mnemosyne nicht mit deren Anfängen zusammenführen kann: Gegenstände, Menschen, Schicksale.«
»Mir wird schon schwindlig, wenn ich nur daran denke«, warf Miriam ein.
»Ist Kali so bleich wie Kalk?«, fragte Ginny plötzlich. Jack sah sie an.
»Kali wird oft als verhutzelte alte Frau dargestellt, deren Haut die Farbe von Krankheit und Tod hat – schwarz«, erwiderte Bidewell und beobachtete Ginnys und Jacks Reaktion. »Aber in der jetzigen Rolle mag sie auch blass sein, so weiß wie Kalk. Schließlich löscht sie ja überflüssige Einzelheiten und Farben aus – bleicht sie aus.«
»Ich glaub dir kein Wort«, warf Farrah ein.
Bidewell fand das lustig. »Ich wünschte, ich könnte mir deine Skepsis leisten. Aber ich habe schon vor langer Zeit ein bestimmtes Talent an mir entdeckt: die Fähigkeit, mich vorübergehend von all jenen rückwärtsgerichteten Schicksalen und Weltlinien zu lösen, die Mnemosyne mit ihren Anfängen zusammenführt. Mit seltsamer Klarheit konnte ich damals Dinge sehen, die gar nicht mehr existierten. Schon in jungen
Jahren lernte ich, nach den Anzeichen Ausschau zu halten, lernte, dem Untergang geweihte Menschen, Orte und Dinge zu beobachten, sah, wie sie immer mehr ausbleichten, bis es irgendwann so war, als wären sie nie gewesen. Und dennoch kann ich mich noch in allen Einzelheiten an sie erinnern. Ich habe scharfe Augen und ein eisernes Gedächtnis.«
»Und nur unnützes Zeug im Kopf«, murmelte Agazutta, aber ihre Augen drückten wohlige Trägheit aus. Sie genoss den Wonneschauer so vieler seltsamer Möglichkeiten.
»Anfangs, in meiner Jugend, stellte ich mich diesen Dingen, versuchte, verblassende oder verschollene Dinge bis zu dem Augenblick zurückzuverfolgen, in dem ihre Auslöschung begann. Oder auch bis zu den Anfängen, bis zum Moment ihrer Erschaffung. Doch ich musste feststellen, dass diese Aufgabe nicht zu bewältigen war. Allerdings bin ich ihrer Lösung einmal oder zweimal gefährlich nahe gekommen. Bald darauf wurde mir klar, dass sich die letzten Überbleibsel verschollener Dinge in Zeugnissen manifestieren, etwa in der Erde oder in geologischen Schichten, aber auch in Spuren ausgestorbener Tierarten, in Kindern, die zwischen den Weltlinien umherziehen – und in Schriften. In Büchern. In
Weitere Kostenlose Bücher