Die Stadt am Ende der Zeit
Pahtun. »Dieses Tor hat sich erst vor wenigen Minuten aufgetan. Die Kalpa hat für euch den Pfad ausgewählt, der im Moment am sichersten ist.«
»Also verfolgt jemand da oben im Turm unseren Marsch?«, fragte Perf.
Plötzlich spürte Tiadba den Drang, über die Schulter zu blicken, denn jetzt wusste sie mit Gewissheit, wo sich Jebrassy befand. Er war im Turm, beobachtete sie aber nicht. Es gab also keinen Grund, sich umzudrehen. Keinen Anlass, zurückzublicken. Sie war fertig mit der Stadt, würde niemals hierher zurückkehrten. Aber mit Jebrassy war sie nicht fertig, und er nicht mit ihr.
Er wird kommen. Doch wenn er endlich da ist, spielt das vielleicht keine Rolle mehr für dich.
»Ach halt die Klappe«, sagte sie fast unhörbar.
»Entschuldigung?«, erwiderte Perf.
»Hab gar nicht mit dir geredet.«
Pahtun wandte sich zur Seite und quetschte sich durch die Mauerlücke. Als Tiadba und alle anderen ihm folgten, strichen ihre Schutzanzüge mit einem unheimlichen Summton
an der offenen Innenfläche der Mauer entlang. Sobald alle auf der anderen Seite standen, sorgte Pahtun dafür, dass sie sich wieder zu einer geschlossenen Gruppe formierten. Sie starrten auf die dunkle, zerklüftete Zone der Lügen hinaus. Vage zeichneten sich am Horizont niedrige Silhouetten ab. »Ihr werdet die Zone schnell durchqueren. Ich gehe so weit mit, wie ich kann, doch dann seid ihr auf euch selbst gestellt. Die nächste Barriere ist eine weitere niedrige Mauer, für euch etwa kniehoch. Sie markiert die größte Reichweite der Realitätsgeneratoren und stellt die Grenze des Realen dar. Unmittelbar dahinter werdet ihr etwas entdecken, das wie ein großes Eingangstor aussieht, aber geht dort nicht hin. Es ist eine Falle, die an allen Stellen auftaucht, wo Beobachter in die Zone der Lügen einzudringen versuchen. Ein typischer Willkommensgruß des Typhon: Wenn ihr dort hindurchgeht, seid ihr verloren, denn das Tor führt euch auf direktem Weg zu den Schweigenden. «
Tiadba sah, wie Khren unhörbar und mit weit aufgerissenen Augen zu den Schweigenden wiederholte. Sie blickte gerade so lange nach oben, dass sie dort einen scharfen grauen Strahl erkennen konnte. Dabei wurde ihr bewusst, dass der Zeuge immer noch seinen Suchscheinwerfer über der Kalpa und durch das Chaos kreisen ließ. Bei jeder Peilung durchschnitt der Strahl den Zerstörten Turm. Der Zeuge suchte nach jemandem, nach Jebrassy, hatte von jeher nach ihm gesucht. Doch warum der Zeuge sich überhaupt für Jebrassy interessierte und wieso Jebrassy sich im Turm statt hier unten befand, konnte ihr auch die unzuverlässige innere Stimme nicht verraten. Tiadba wusste es einfach nicht und wollte auch nicht weiter darüber nachdenken.
»Los, folgt mir! Rennt!«, sagte Pahtun und lief voran, um ihnen ein Beispiel zu geben. Die vier Begleiter blieben zurück, knieten sich hin und hoben zum Abschied ihre Stäbe.
Die Gruppe tat ihr Bestes, um mit Pahtun Schritt zu halten, doch es dauerte nicht lange, bis der Ausbilder einen großen Vorsprung hatte. Tiadba konnte nur noch mit Mühe ausmachen, dass er über Schotter kletterte, sich aufrichtete, über die Köpfe der Gruppe zurückblickte und plötzlich die Arme hob. Er musste irgendetwas entdeckt haben. Sofort erkannte sie, dass es ein Fehler war, wenn er einfach dort stehen blieb.
Er wollte sie warnen …
Etwas Dunkles überzog den Himmel, und von den Bionen weit hinter ihnen drang ein entsetzliches Geräusch zu ihnen herüber, das wie eine Sirene klang: ein schriller hoher Ton, der zur tiefen Totenklage anschwoll und schließlich wie ein Knurren wirkte. Bei diesem Lärm stellten sich ihre Pelzhärchen unter dem Panzer auf. Sie biss die Zähne zusammen, lief schneller und rempelte dabei Khren und Nico an, die gleichfalls um ihr Leben rannten, allerdings nicht so schnell wie Herza und Frinna, die bereits über hoch aufgeschichtete Steinblöcke, Wälle aus schwarzen Fundamenten und durch dichtes, zähes Aschegestöber stolperten. Als es plötzlich dunkel wurde, fragte Tiadba sich einen Moment lang, ob die Kalpa ihnen Deckung gab, den schrecklichen Himmel leer fegte und alles ablenkte, was möglicherweise nach ihnen Ausschau hielt, um sie in Versuchung zu führen. Doch dann merkte sie, dass die Dunkelheit nicht von innen kam, sondern von außen hereindrang und in trägen, öligen Wellen auf die Bione der Kalpa zurollte.
Ein Übergriff des Chaos, wie derjenige, der uns isoliert und die Ebenen beschädigt hat. Wie derjenige, der
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