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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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tatsächlich. Es kam ihr so vor, als wollten sie in ihren Höhlen herumpurzeln und sich zur Rückseite ihres Schädels drehen. Dennoch senkte sie den Blick nicht und schloss auch nicht die Augen. Allzu lange hatte sie auf das hier gewartet. Sie wirbelte auf dem Stiefelpolster herum und sah weiter nach oben, an der großen geschwungenen Außenhülle des ersten Bion entlang und danach nach links und rechts, um die anderen riesigen, dunklen Umrisse in sich aufzunehmen. Beide Bauten wiesen Sprünge und Spalten auf und waren teilweise zerstört. Die Kalpa – das, was davon noch übrig war. Oben kam langsam etwas in Sicht, das sich über das erste Bion erhob und von ihm wegdrängte: ein Feuerring, der rot und zugleich violett leuchtete und ein schwarzes, alles verzehrendes Nichts umschloss, das weder Gedanken noch Leben kannte. Der Anblick tat den Augen weh. Tiadbas Kiefer klappte herunter, und ihr Atem kam nur noch stoßweise. Diese Erscheinung gehörte offensichtlich nicht hierher, wie ihr sofort klar wurde, und war so bizarr, dass sie nicht einmal mehr Angst empfand.
    »Ist das die Sonne ?«, fragte sie.
    »Hängt davon ab, was du mit Sonne meinst«, erwiderte Pahtun, der den Blick auf den Boden gerichtet hatte. »Es ist ganz sicher nicht mehr die Sonne, die wir geschaffen haben.«
    Die zweite Frage stellte Tiadba auf Drängen ihrer Besucherin. »Wo sind die Sterne?«
    »Längst verschwunden.«
    Das warme, begrenzte Licht des künstlichen Himmels hatte sie ihr ganzes Leben lang beschützt und sich während der angenehm beruhigenden Schlaf-Wach-Zyklen fast nie verändert, doch damit war es vorbei. Was jenseits der Mauern und oberhalb der Stadt lag, war majestätisch, aber grausam und selbstbezogen, erzeugte kein Licht, sondern etwas, das die transparenten Visiere ihrer Helme übersetzen mussten, damit es irgendeinen Sinn ergab.
    Das Chaos.
    »Abwarten«, mahnte Phatun erneut und musterte den Boden. Tiadba hatte keine Ahnung, worauf sie jetzt warteten. Was konnte noch seltsamer sein als das hier, ihre Sinne noch mehr reizen?
    Irgendetwas streckte die Fühler nach unten aus, obwohl sie sich immer noch innerhalb der Grenze des Realen befanden. Es griff nach unten und versuchte sie beiläufig wegzuschnippen, so als wollte jemand Buchstabenkäfer von einem Tisch fegen. Vier Marschteilnehmer schrien gleichzeitig auf, stürzten zu Boden und wälzten sich in eine flache Kuhle zwischen den Bodenwellen der Fundamente, um sich zu verbergen. Khren und Nico sanken auf die Knie und klammerten sich aneinander. Nur Tiadba blieb neben dem Ausbilder stehen und blickte als Einzige nach oben.
    Der Himmel oder das, was früher einmal der Himmel gewesen war, schien zu wissen, dass jemand ihn beobachtete. Er versuchte, in Tiadbas Augen zu dringen, in ihren Verstand einzutauchen und alles zu untergraben, was sie als Nachgezüchtete einer uralten Gattung ausmachte: die Gabe zu denken und zu beobachten, ihre Existenz als selbstständiges Wesen.
    Es verweigert sich jedem Verständnis und will sich auf keinen Fall beherrschen lassen.
    Langsam senkte Tiadba den Blick auf den unebenen, zerklüfteten Boden und blinzelte. Sie hatte wieder Gewalt über ihre Augen. Irgendwie war es ihr gelungen, das, was oberhalb der Kalpa lag, abzuwehren und auf Abstand zu halten.
    Pahtun sah das junge weibliche Geschöpf mit neu erwachtem Respekt an. Er zog eine gewisse Befriedigung aus der quälenden Situation und verfolgte mit beruflichem Interesse, wie die Gruppe sich ihr nach und nach anpasste. »Das ist erst der Anfang«, sagte er. »Und es gibt keine Möglichkeit, euch auf das Kommende vorzubereiten. Überhaupt keine.«
     
    Sie näherten sich der äußeren Reihe der Generatoren, hohen, schmalen Bauten, die entlang des Rings langsam vor und zurück glitten. Mit ihrem matten Glanz und den verschwommenen Umrissen glichen sie in Nebel gehüllten gläsernen Riesen. Die in den Obelisken verborgenen Objekte bewegten sich so bedächtig und zielgerichtet, als verfolgten sie die Spur von außen wirkender Kräfte.
    Zwischen den Generatoren waberte ein dunkler Nebel, durchbrochen von einem Labyrinth niedriger Mauern, die den Marschteilnehmern kaum bis ans Knie reichten. Tiadba konnte nicht glauben, dass diese Mauern irgendetwas draußen halten würden, was tatsächlich nach innen dringen wollte.
    Pahtun und seine Helfer begleiteten die neunköpfige Gruppe auf den letzten zehn Kilometern bis zur inneren Mauer. Entfernungen hatten an diesem Ort, hundert Kilometer jenseits

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