Die Stadt am Ende der Zeit
und sich das ansehen. Für Leute unseres Schlages ein bemerkenswertes Erlebnis. Die Folgen und der Abschluss von allem.«
»Unterlassen Sie solche Anschuldigungen wie Leute unseres Schlages . Sie werden hier doch kaum geduldet«, entgegnete Bidewell. »Und ich war niemals ein Vogelfänger.«
»Dennoch habe ich Ihr Sortiment vervollständigt, Conan. Hätte ich ihn nicht hierhergeführt, wäre er vielleicht niemals bei Ihnen aufgetaucht.«
»Scheint so, als ob Sie mehr auf ihn angewiesen sind als umgekehrt. «
»Keine Frage. Man hat ihn nie erwischt; er war nicht mal nahe dran, erwischt zu werden. Bis jetzt hat er nie die Aufmerksamkeit der von der Bleichen Gebieterin beauftragten Jäger auf sich gezogen. Aber diese Ausnahmestellung verleiht Mr. Iremonk offenbar nur noch mehr Gewicht.«
Glaucous suchte sich einen Stuhl, nahm Platz und schaffte es irgendwie, seine kurzen, dicken Beine übereinanderzuschlagen. Er hatte nur schwach ausgebildete Füße, winzig für einen Mann solchen Körperumfangs, und die Schuhe, die er trug, waren schmal geschnitten. Die spitz zulaufenden Zehen mündeten
in einer eckigen Kappe, die wie abgeschnitten wirkte. Diese Mischung aus Zartheit und Plumpheit verlieh ihm einen Anstrich herber Komik, so dass er einer Karikatur von George Cruikshank ähnelte. »Wünschte, ich hätte meinen Tabak mitgebracht«, sagte er. »Sie haben nicht zufällig …?«
Bidewell schüttelte den Kopf. Einer solchen Unperson wie Glaucous bot man nicht mehr als unbedingt nötig an, außerdem hatte Bidewell das Rauchen schon vor mehr als vierhundert Jahren aufgegeben.
Jack schlief nicht, fand keinen Schlaf. Irgendetwas hier drinnen versuchte ständig, Verbindung mit etwas da draußen aufzunehmen. Die Fäuste um die Decken geklammert, setzte er sich auf den Bettrand und dachte an all die Leute, die in Bidewells abgeschiedener Festung gestrandet waren. Leute, Katzen – und was sonst noch?
Wer oder was war Glaucous in Wirklichkeit? Oder auch der ähnlich undurchsichtige Daniel?
Was bin ich?
Seine Muskeln schmerzten vom Schleppen so vieler Kisten. An derart stumpfsinnige Schwerarbeit war er nicht gewöhnt. Er stand auf und strich die Knitterfalten in seiner Kleidung glatt. Heute schliefen sie alle in ihren Klamotten. Er überlegte, wann er das letzte Mal geträumt oder seinen Besucher empfangen hatte. Es war schon ein paar Wochen her. Vielleicht war das für immer vorbei.
Er lauschte auf Ginnys leises, regelmäßiges Atmen auf der anderen Seite der Bücherwand, spähte um die Kisten herum und zog das zerfetzte Laken, das als Vorhang diente, zur Seite. Ginny hatte sich in eine von Bidewells alten braunen Wolldecken
gewickelt, die vermutlich aus Restbeständen der Armee stammten. Aber von welcher Armee? Und aus welchem Krieg?
Sie hatte die Knie angezogen und wandte ihm den Rücken zu. Ihre Schultern bebten: Sie träumte immer noch, doch schließlich kam sie zur Ruhe.
Während er in dem behelfsmäßigen Eingang stehen blieb, entgleiste sein Gesicht, zeigte nacheinander wechselnde Emotionen – Kummer, Erschöpfung, Verwirrung – und verlor danach jeden Ausdruck. So viele Erwartungen, und so wenig Verständnis für das Jetzt, das Kommende, das niemals Eintretende .
Ginny schlug die Augen auf, drehte den Kopf herum und blinzelte. Ihre Lippen zuckten. Als Jack sich zurückzog, prallte er gegen eine Kistenwand, merkte dann aber, dass er Ginny nicht geweckt hatte und sie immer noch schlief. Leise und mit großem Respekt beugte er sich über sie, brachte seinen Kopf näher an sie heran und wandte ihr ein Ohr zu. Wo immer sie sich befinden mochte, was immer sie gerade erlebte: Glücklich war sie nicht. Und er konnte ihr nicht helfen, weder hier noch dort . Sie murmelte etwas in einer Sprache, die ihm irgendwie bekannt vorkam.
»Was läuft da schief?«, flüsterte er.
Ihre Augen blickten durch ihn hindurch, in die Ferne, und sie zog angestrengt die Brauen zusammen. Offenbar fiel es ihr schwer, Englisch zu sprechen. »Sie verfolgen uns.«
»Wer?«
»Wiedergänger. Ich glaube, sie sind tot. Sind direkt durch ihn hindurchmarschiert. Er ist verschwunden.«
Sie kniff die Augen zu und rollte sich enger zusammen.
Jack wischte sich Tränen von den Wangen. Draußen, unterhalb des Lagerhauses und ringsum, war das Getöse lauter geworden.
Kurz darauf kehrte er in seine Nische zurück und trank einen Schluck Wasser aus der Plastikflasche, die er in seinem Rucksack mitschleppte. Legte sich hin, zog die Beine an.
Weitere Kostenlose Bücher