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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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ab. Wird sie Mut fassen und zurückkehren – als kreischende Harpye ? Was glauben Sie?«
    Glaucous’ Gesicht verfinsterte sich.
    »Hat Sie im Stich gelassen, wie? Verleibt sich jetzt diejenigen ein, die andere fressen, macht Jagd auf die Jäger. Wir nannten sie die Windsbraut; manche bezeichneten sie auch als Hure des Südwinds …«
    Als erneut ein Schlag von draußen die Wände erzittern ließ, schoss Glaucous vom Stuhl hoch. Bidewell steckte einen Holzscheit in den Ofen. »Haben Sie eine Verdichtung von Bewegungen und Gedanken bemerkt?«
    Glaucous zog eine Augenbraue hoch.
    »Bald werden wir zwischen den stahlharten Wänden von Alpha und Omega festsitzen. Es ist nicht nur der Terminus, vor dem Ihre Gebieterin geflohen ist. Zwischen uns und dem Anfang oder dem Ende existiert kaum noch etwas oder gar nichts mehr. Die ganze Geschichte wurde verschlungen; Stränge wurden zu Fäden zusammengepresst und zu Fasern ausgedünnt, bis zu Punkten verdichtet. Ich frage mich, wie das wohl sein wird.« Langsam quetschte er die Finger zusammen, bis kein Abstand mehr dazwischen lag. »Eine plötzliche Helle, stelle ich mir vor. Und eine große Schwere, während alles verbliebene Licht und alle verbliebene Schwerkraft quer durch eine konzentrierte Zeitblase vor und zurück pendeln. Und der Lärm! Markerschütternd , alter Gegner.«
    »Nehmen Sie das nur an, oder wissen Sie es?«, fragte Glaucous.
    Bidewell deutete mit dem Kinn auf die Bücher. »Ich habe mir Bruchstücke der Vergangenheit und der Zukunft angeeignet und sie so lange sortiert und miteinander kombiniert, bis sie einen nicht bestreitbaren Sinn ergaben.«
    Glaucous krümmte die Finger, umklammerte die Knie und schaukelte hin und her. »Meine Gelenke schmerzen. Selbst hier drinnen ist es kalt.«
     
    »Wir gehen besser hoch, solange es dort überhaupt noch was Interessantes zu sehen gibt«, flüsterte Daniel und entfernte sich. Diesmal folgte Jack ihm mit erhitztem Gesicht.
    Die Leiter bestand aus festgenagelten Holzbohlen, die in die eng aneinanderliegenden Dachsparren eingelassen waren. Als Jack in die Dunkelheit hinaufblickte, konnte er unter dem Dach die Umrisse einer Luke ausmachen. Daniel war schon halb oben. Die Luke war nicht versperrt. Er schob sie auf und stieg in einen schrägten Vorbau. Eine verzogene Holztür öffnete sich widerstrebend und bot Durchlass zu einer mit Teerpappe ausgekleideten Nische, die mit unregelmäßigen Streifen von Asphalt abgedichtet und ausgebessert war. Kreuz und quer verstreute, verwitterte Holzpaletten dienten als Bodenbelag. An das niedrige Spitzdach grenzte eine kniehohe Mauer, die in bestimmten Abständen von Abflussrinnen durchbrochen wurde. Oberhalb der Mauer hatte man Ausblick auf das, was von Seattle noch übrig war.
    Richtung Norden zeichnete sich Daniels Silhouette als hellerer Schatten vor dem aufgewühlten Himmel ab, der einem zerfetzten Vorhang glich. Jack trat neben ihn an den Dachrand. Einzelne Risse im Vorhang enthüllten einen Wirrwarr aus Industrie- und Wohngebäuden sowie Lagerhäusern. Im Westen ragte ein Wald von Masten auf; auf den Straßen hatten sich Schmutz, Schottersteine, Ziegel, Asphalt, Holz und der Beton der Gehwege übereinandergeschichtet. Menschen in altmodischer Kleidung hatte es mitten im Gehen erwischt: Sie vibrierten und ruckelten wie Zeiger zerbrochener Uhrwerke hin und her. Mit qualvollen, langsamen Schritten näherten sie sich dem Nirgendwo.
    Als der zerfetzte Vorhang sich teilte, waren weitere Straßen und Gebäude zu erkennen, ein willkürlich zusammengeworfenes Puzzle der Zeit, dessen Teile nicht zusammenpassten. In der nur vage auszumachenden Umgebung des Lagerhauses sah
es so aus, als hätte jemand vom Himmel aus eine Kiste mit Bauklötzchen entleert. Die dicke, kühle Luft war voller Streugut – welcher Art, wollte Jack lieber nicht wissen.
    Daniel hustete und schwenkte die Hand. »Alles Zurückgelassene findet hier seinen Platz«, bemerkte er. »Genau wie du und ich. Ich wette, wir würden Stadtviertel und auch Menschen aus der Zeit vor der Errichtung dieses Lagerhauses wiedererkennen, hätten wir historische Bildbände über diese Gegend. «
    »Was geschieht da draußen?«
    »Wer weiß? Aber denke es mal bis zum Ende durch.« Ironisch grinste er Jack an. »Wir sind Ameisen, die sich an die letzten Fleischbrocken klammern. Die meisten Stücke hat jemand bereits durchgekaut und verschlungen – der größte Teil unseres Universums ist verschwunden. Wäre es anders … Warum würde

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