Die Stadt am Ende der Zeit
sagte sie. »Vielleicht ist ein Generator in der Nähe.«
»Ich sehe nichts«, erwiderte Nico. »Nur das Violett und diese Äste. Aber es gefällt mir nicht, wie sie funkeln.«
Shewel gesellte sich zu ihnen und legte sich auf den Rücken. Offenbar wollten sie alle auf Bodenhöhe bleiben, um den Ästen auszuweichen, die jetzt sogar noch größeren Umfang annahmen.
Doch ein Gutes hatte die Situation: Die lodernde Himmelssichel konnten sie von hier aus nicht mehr sehen.
»Es hat ja auch niemand behauptet, dass es leicht sein würde«, warf Denbord ein, allerdings schwankte seine Stimme, denn er war keineswegs sicher, dass es der richtige Zeitpunkt war, Tapferkeit zu demonstrieren, schon gar nicht falsche Tapferkeit. Macht starrte seine Kamerden mit großen runden Augen an. Herza und Frinna saßen nebeneinander und hielten Händchen. Alle holten tief Luft.
Es schien ihnen am besten, nichts mehr zu sagen und sich still zu verhalten. Tiadba inspizierte ihre behandschuhten Finger, spürte, wie der Anzug trocknete und ihre juckende Haut besänftigte. Also funktionierte er noch. Es war die bequemste Kleidung, die sie je getragen hatte. Langsam bekam sie ihre Furcht in den Griff. Als sie nachließ, blieb nur ein leeres Gefühl von Kummer und, wie bei Macht, Enttäuschung zurück. Falls die anderen zu ihr als einer Art Vorbild oder Anführerin aufsahen, dann …
Nach einer Weile hielten die Äste in ihrem Wachstum inne, und es wurde ringsum still.
»Falls wir in irgendeinem Bauch stecken, können wir daran nichts ändern«, erklärte Tiadba. »Besser hier als da draußen.«
»Aber wir können hier nicht ewig bleiben«, sagte Denbord.
»Das wissen wir«, erwiderte Macht. »Halt einfach den Mund und überlass uns unserer Traurigkeit.«
»Vielleicht ist das hier sogar eine Trauerstätte«, bemerkte Nico, der ewige Philosoph.
An den glatten braunen Baumstämmen vorbei, die sich so schnell verästelt hatten, blickte Tiadba nach links, zum Rand der Lichtung, der nur wenige Meter entfernt war. Die funkelnden Baumspitzen strahlten ein schwaches gelbliches Licht aus. Sie war sich nicht sicher, ob sie es schaffen würden, aus diesem Dickicht zu entkommen.
Hier gab es keine Schatten, nichts, das sich bewegte, nichts, das sie bedrohte – aber auch keine Aussicht auf eine Besserung der Lage.
Und dann glaubte sie zu träumen: Die Äste teilten sich, die funkelnden Baumspitzen bildeten einen Bogen, und hindurch trat ein Hochgewachsener. Er trug lediglich einen knielangen Schurz, der schmutzig, zerfetzt und offenbar mit kleinen Zweigen zusammengeflickt war.
Im Halblicht kam er so nahe an die Gruppe heran, dass alle ihn deutlich sehen konnten. Verblüfft starrten sie ihn an.
»Was passiert da?«, flüsterte Tiadba. Aber auch diesmal hatte der Schutzanzug keine Antwort parat.
Der Hochgewachsene sah ihrem Ausbilder Pahtun sehr ähnlich. Allerdings ähnelten in den Augen der Nachgezüchteten alle Hochgewachsenen einander. Er kam noch näher und kniete sich nieder. Sein schmutziges Gesicht wirkte unbeteiligt. Zwar musterte er sie, doch ohne jede Neugier, als überrasche es ihn keineswegs, sie hier zu finden, und als sei er an ihrem Vorhaben nicht sonderlich interessiert.
»Was passiert da?«, wiederholte Tiadba mit lauterer Stimme. »Wo sind wir?«
Der Hochgewachsene schüttelte den Kopf und murmelte irgendetwas.
Plötzlich teilten sich ihre Helme und fielen ihnen auf die Schultern. Denbord war so erschrocken, dass er aufschrie und sich die Hände vor Mund und Augen schlug. Doch dann merkte er, dass er nicht sterben würde.
Die Gruppe schnappte nach Luft, die zwar dünn, aber durchaus angenehm war.
»Die Anzüge erkennen mich und befolgen meine Anweisungen«, erklärte der Hochgewachsene. »Die armen Dinger.« Er strich über Tiadbas Schulter, streichelte aber nicht sie, sondern den Schutzanzug. »Völlig veraltet und eigentlich nutzlos. Versagen bei solchem Stress.«
»Einer von uns ist schon gestorben«, sagte Khren.
Als sie aufstanden, befanden sich ihre Köpfe auf einer Höhe mit den Schultern des knienden Hochgewachsenen. »Ich bin Pahtun«, verkündete er.
»Pahtun ist tot«, entgegnete Macht.
»Pahtuns wird es immer geben. Wo ist er gestorben?«
»In der Zone der Lügen«, erwiderte Nico, und alle nickten bestätigend.
Auch der Hochgewachsene nickte. »Ein guter Anschauungsunterricht, nicht? Ich habe viele Versionen von mir geschaffen und gegen viele Regeln verstoßen, um den Marschierern zu helfen. Wenn
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