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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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zerfressen. Zerstörte Zeit scheint wie Feuer oder Säure zu agieren.«
    Beide schwiegen, während sie einen Bogen um einen Steinhaufen schlugen. Düster funkelnd verwandelten sich die Steine plötzlich in Beton- und Stahlteile, die zu einer Mauer aus jüngerer Zeit gehörten, aber genauso wild durcheinandergewürfelt waren wie alles andere.
    »Ein wahres Schlachtfeld«, sagte Glaucous. »Vor fast hundert Jahren bin ich durch die Schützengräben von Ypern gezogen, um dort nach einem ganz besonderen Herrn zu suchen, einem wunderbaren starken Kerl, der Dichter war. Angeblich träumte er regelmäßig von einem Ort, den er als die Letzte Schanze bezeichnete. Ehe er ins Feld gezogen war, hatte er ein Buch geschrieben und darin seine Träume in allen Einzelheiten geschildert … Aber der Krieg hatte ihn bereits in tausend Stücke zerrissen. Diese Kriegszeit – für Jäger waren das magere Jahre.«
    Auf beiden Seiten stiegen die Straßen und Gebäude jetzt so steil an, als wäre einer Gebirgslandschaft eine Stadtstruktur übergestülpt worden. Manche der Gebäude wirkten weniger zerstört als alle, die sie vorher gesehen hatten; allerdings befanden sie sich in schrecklicher Schräglage.
    Vor sich entdeckte Glaucous Jack, der gerade unter einem bedenklich labil wirkenden Torbogen aus Stahl und Glas hindurchging.
    Daniels Augen huschten hin und her. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Wie lange geht das in dieser Art weiter?«
    »Keine Ahnung«, erwiderte Glaucous. »Hab mich ja nur an euch rangehängt.«
    »Du hast mehr als das getan. Du hast Ginny Angst gemacht. Genauso gut hättest du sie vor die Tür setzen können.«
    »Und das macht dir Sorgen?«
    »Mir ist nicht klar, warum du bei uns bist. Jedenfalls weiß Jack, was du auf dem Kerbholz hast.«
    »Ach ja?«
    Glaucous blickte auf, als sie den Torbogen erreichten. Bei der Vorstellung, Tausende von Tonnen könnten sich in diesem Moment dazu entschließen, auf ihn herabzustürzen, sackten seine Schultern herunter, und sein feister Nacken versteifte sich. »Hab keinen Grund, mich zu schämen«, entgegnete er. »Schicksalswandler mögen mehr Charme und romantisches Flair haben als Glücksjäger, aber letztendlich läuft unser Tun auf das Gleiche hinaus. Wir packen den Zufall beim Genick und scheren uns wenig darum, ob wir den Leuten in unserem Umfeld das Glück nehmen.«
    »Hab auch nie behauptet, ein rechtschaffener Mensch zu sein«, erklärte Daniel.
    »Na dann ist’s ja gut«, knurrte Glaucous.
    »Unterlass einfach deinen blöden Versuch, mich hier draußen auch noch einzuwickeln und mir ein gutes Gefühl zu geben.«
    »’tschuldigung. Alte Gewohnheit.«
     
    Jack lauschte auf die Stimmen in seinem Rücken. Er spürte, dass jetzt alles auf ein Ende zusteuerte, und dieses Gefühl war
so entsetzlich, dass die dunklen Trümmer ringsum zur Bedeutungslosigkeit verblassten. Solche Trümmer – oder ähnliche, nicht ganz so verrottet – hatte er schon gesehen. Doch erst jetzt, da alles zerstört war, konnte er die Einzelteile zum Gesamtbild dessen zusammensetzen, was sein Kosmos (oder der Ausschnitt, den er davon kannte) einst gewesen war. Er hatte es geschafft, sich darin zu bewegen, ohne viele Spuren zu hinterlassen, weniger als die meisten anderen; hatte weniger als andere erreicht, kaum Meilensteine für den Weg zu einem normalen Leben gesetzt. Was ihn verblüffte, war seine Unfähigkeit, starke Zuneigung zu empfinden. In seinen Träumen hatte er eine fast surreale, kindlich-naive Leidenschaft gespürt, doch Ginny mochte er einfach nur. Er konnte beim besten Willen nicht mehr Gefühl aufbringen. In dieser Hinsicht verhielt er sich längst nicht so männlich wie die Gestalt in seinen Träumen.
    Jack ließ nur deshalb nie etwas fallen, weil er nichts für längere Zeit festhielt: Ellen, die sich einige Stunden auf ihn eingelassen hatte, hatte sich damit zufriedengegeben, dass er eine Andeutung von Zuneigung gezeigt hatte. Aber vor Ellen …
    Seine Mutter war nur ein blasser Umriss in einem Krankenhausbett, angestrahlt von einer grellen Lampe. Noch undeutlicher war das Bild, das er von seinem Vater hatte: ein stämmiger Mann, der versucht hatte, komisch zu sein. Der versucht hatte, Jack zu lieben. Wie konnten jene, die ihr Schicksal selbst lenken konnten, sich mit so wenig abfinden? Was das betraf, war Ginny wie er. Schicksalswandler schienen zu großen Dingen nicht fähig zu sein. Sie streiften umher und ließen Bindungen, Liebe und selbst Erinnerungen einfach hinter

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