Die Stadt am Ende der Zeit
sich zurück. Welches Recht hatte er, Daniel oder Glaucous irgendetwas vorzuwerfen?
Sie waren einander doch alle gleich: Egoisten der schlimmsten Sorte. Sowohl diejenigen, die die Steine behüteten, als auch diejenigen, die nach ihnen suchten, waren in ihrer Menschlichkeit reduzierte Geschöpfe mit sprunghafter Wahrnehmung – auf Punkte zusammengeschrumpft, denen jede Größe und Tiefe fehlte.
Nicht einmal die Gunst der Mnemosyne hatte Jacks düstere Stimmung gehoben. Jetzt stapfte er durch die ausgehöhlten Überreste menschlicher Geschichte, über die düsteren Müllhaufen der Geschichte, die ihm wie unheimliche Kohlezeichnungen Schritt für Schritt enthüllt wurden. Wohin ging er überhaupt? Wohin konnte er gehen?
Ginny suchen. Eine Traumschwester. Wer jagte hier wen?
Und auf diesem Weg wartete auch eine Begegnung auf sie beide, eine Begegnung mit …
Daniel rief ihn zurück. »Geh langsamer. Wir verlassen jetzt diesen Wirrwarr von Stadt.« Als alle drei sich zusammenfanden, gaben die vereinten Schutzsteine ein hohles Geräusch von sich. Jack blickte sich um und presste zwei Finger gegen die Schläfen.
»Kannst du dich an etwas Ähnliches erinnern?«, fragte Daniel.
»Wie steht’s mit dir?« Jack rieb sich immer noch die Schläfen.
»Mein Schicksalsfaden wurde zerfetzt, deshalb bin ich näher zu euren Weltlinien gesprungen. Vermutlich bist du auf die Fäulnis gestoßen, ehe sie tatsächlich alles eingekreist hatte. Aber jetzt ist die Situation völlig anders. Das hier ist alles, was noch übrig ist: herausgelöste Bruchstücke, die kollidieren.«
»Erinnerungen an die Geschichte?«
»Oh, früher mal war das alles durchaus real …« Daniels Lippen arbeiteten so, als versuche er, eine andere Stimme zu unterdrücken. »Entschuldigung, aber ich muss mit einem verängstigten, neugierigen Wirt fertig werden.«
Eher angewidert als schockiert starrte Jack ihn an. »Höflich ausgedrückt, bist du ein Einsiedlerkrebs.«
»Unhöflich ausgedrückt, bin ich ein Bandwurm oder ein Blutegel«, gab Daniel zurück.
Glaucous sah beide durch seine rot umränderten Augen an.
»Allerdings bin ich nicht unnütz und auch nicht sonderlich brutal. Was hast du für Bidewell und deine Freundin im Lagerhaus zurückgelassen?«
Jack schüttelte nur den Kopf.
»Ich habe mit dem Gedanken gespielt, ihnen einen eigenen Stein zu geben«, sagte Daniel. »Etwas, das die beiden schützt, wenn die Kalkfürstin kommt. Ich besitze nämlich zwei davon.«
Glaucous machte große Augen. »Das ist unmöglich. Noch nie hat ein Hirte zwei Steine besessen.«
»Es hat ja auch noch nie einen so durchtriebenen Hirten wie mich gegeben.« Daniel drehte den Kopf, um zuzusehen, wie sich dünne bläuliche Spiralen zwischen grauen Felsen und verstreuten Trümmern hin und her wanden. Stets treten sie paarweise auf – eine Art kosmischer Handshake. »Doch letztendlich war mir klar, dass Bidewell das Angebot ablehnen würde. Drei Steine sind die Mindestzahl, vier bedeuten Sicherheit.«
Jack wandte sich ab. Er hatte keine Ahnung, was das heißen sollte. »Hier sieht’s tatsächlich so aus wie in unseren Träumen. Wie an dem Ort, zu dem Jebrassy zieht, nachdem er die Stadt verlassen hat.«
»Wer ist Jebrassy?«
»Das werden wir bald genug feststellen, glaube ich. Wir sollen ihn nämlich treffen.«
»Das Selbst aus der Vergangenheit und das aus der Zukunft treffen aufeinander? Wie soll das gehen?«
Jack schüttelte den Kopf.
»Ich werde jedenfalls niemanden treffen«, erklärte Daniel. »Mehr oder weniger ist mir das alles ein Rätsel.«
»Wir leben jetzt in der Zeit eines Textes«, sagte Jack.
»Vermutlich ist das etwas, das Bidewell vor unserer Ankunft erwähnt hat«, knurrte Glaucous.
»Kann sein. Spürt ihr das denn nicht? Wir sind nichts anderes als mit Sprengstoff gefüllte Kapseln. Sobald wir landen, sind wir erledigt. Dann ist dieser Text zu Ende, und man kann das Buch zuklappen.«
»Und ein anderes aufschlagen«, setzte Daniel nach.
93
Ginny zog mit den unzähligen vom Chaos umgewandelten Marschierern ins Tal und beobachtete sie verblüfft und voller Mitgefühl. Sie wirkten kaum wie Geschöpfe aus Fleisch und Blut, geschweige denn lebendig. Ihre Schutzanzüge waren zerschlissen, die Füße aufgerissen und von längst getrocknetem Blut verschorft. Zwar sahen sie wie wandelnde Leichname aus, aber sie sprachen miteinander und drückten mit ihren hohen, blechernen Stimmen Siegesgewissheit und Begeisterung aus, obwohl sie völlig
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