Die Stadt am Ende der Zeit
die meiste Zeit über wie altes, aber festes Felsgestein an. Allerdings mussten die Integralläufer sie in dieselbe Richtung wie Ginny gezerrt haben. Zumindest nahm Jack es an, denn die beiden Steine, die Daniel bei sich trug, verhielten sich genauso wie sein eigener.
Jetzt lagen die toten, leeren Städte hinter ihnen – unbegreifliche Bauten, fernen Zeiten entnommen, hier angeschwemmt und gestrandet. Und danach hatte irgendetwas sie einer perversen Untersuchung unterzogen, sie voller Zorn seziert und dann hektisch und aufgebracht als unnütz ausgemustert. Ganze Städte weggeworfen wie verstümmelte Kadaver, gebrandmarkt und verätzt von hilflosem Hass. Der ganze Trümmerhaufen das Zerstörungswerk eines sternlosen, pechschwarzen, unglückseligen Etwas , das überaus mächtig war und dennoch durch und durch unwissend.
Seine Fantasie ging mit ihm durch.
Glaucous’ heisere Stimme riss ihn aus seinen Tagträumen. »Während ihr beide geschlafen habt, habe ich Wache gehalten. Wir haben so was wie Hügel oder Berge umrundet.«
»Wie hätten wir denn schlafen sollen?«, entgegnete Daniel. »Wir sind doch gelaufen.«
»Ihr schlaft sogar im Gehen.«
Jack rümpfte die Nase. »Auch wenn man nicht schläft, sind das hier Alpträume.«
»Er lügt, sobald er den Mund aufmacht.« Daniel sah Glaucous schräg an. Ihre Schuhe machten ein unangenehm quietschendes und saugendes Geräusch, wenn sie auf die Blase traten und sie gegen das zerklüftete dunkle Felsgestein pressten.
»Meine Herren!«, sagte Glaucous so, als wolle er sie zu einem zivilen Umgang ermahnen. Plötzlich blieb er stehen, starrte
nach vorn und riss die Augen weit auf. »Das gibt’s doch gar nicht!«
Jack und Daniel gingen reflexartig noch zwei Schritte weiter, ehe sie anhielten. »Was gibt es nicht?«, fragte Jack.
»Ich bin doch nicht verrückt!« Glaucous wischte sich mit dem Ärmel Schweiß von den Wangen.
Jetzt sah auch Jack, dass sich vor ihnen irgendetwas tat: Nahe am Boden zeichneten sich kleine dunkle Silhouetten ab, die sich geschmeidig vorwärtsbewegten, während von ihren Körpern etwas Wuscheliges nach oben ragte und zuckte. Keineswegs fremdartig und an sich auch überhaupt nicht beängstigend. Aber hier, an diesem Ort?
»Katzen«, sagte Jack. Daniel wandte sich um.
»Katzen haben verblüffende Fähigkeiten«, bemerkte Glaucous. »Sind ausgezeichnete, sehr talentierte Schicksalswandler, manche auch Glücksjäger. Gottheiten und Gebieter über alle winzigen Nager.«
Inzwischen waren die Silhouetten verschwunden.
Glaucous holte tief Luft. »Und jetzt zu diesen Hügeln und Bergen. Man hat sie mir beschrieben. Sie umschließen einen unglückseligen Ort.« Er tat so, als zöge er mit der Hand eine Furche durch die Luft. »Ich habe gehört, dass das hier der Ort ist, wo der Nachtfalter Hirten und deren Steine abliefert. Eine lange, flache Rille. Wie ein Tal inmitten hoher Spitzen, umgeben von unsäglichen Geschöpfen, die in weit entfernten Regionen gefangen genommen wurden. Und im Zentrum von allem ein niedriger Trichter mit drei aus Schicksalsfäden gewobenen Eingängen, die sowohl Glücksjäger als auch Schicksalswandler in die Irre führen können. Das ist der Ort, an dem die Kalkfürstin regiert.«
100
Die Trügerische Stadt
Tiadba steckte in einem Kokon aus Staub und Fasern, was sich so anfühlte, als wäre sie in einem Kehrhaufen gelandet. Ihre Augen stachen und brannten, aber sie wagte nicht, sie auszuwischen, denn ihre Hände waren wie die ganze übrige Haut mit Scherben und Splittern überzogen. Oft genug hatte sie während der Stunden, die ihr wie die Glieder einer endlosen Kette vorkamen, die Scherben über ihre Haut kriechen gespürt, als hätten sie ein Eigenleben. Sie konnte sich nicht vorstellen, was sie sein mochten.
Lebendige Fäulnis, die ihren Leib verzehren wollte?
Doch das spielte kaum noch eine Rolle.
Gefangen in ihrem Kokon, war sie über den Erschöpfungszustand längst hinaus. Es war nicht mehr wichtig, ob eines der Kettenglieder warm war und das nächste weder warm noch kalt. Obwohl sie völlig ausgelaugt war, sich wie von Feuer versengt fühlte und Schmerz empfand, machte ihr all das nichts mehr aus. Nur gelegentlich konnte sie sich zu einer Erinnerung an ihre Gefährten, an die anderen Marschteilnehmer, aufraffen. Und wenn sie es tat, stachen ihr die Scherben noch heftiger ins Fleisch. Die Erinnerungen und Selbstvorwürfe hatten sich in winzige scharfe Glasscherben verwandelt, die an ihrer Haut hafteten und
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