Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
schossen bläuliche Eissäulen aus dem Boden, die sich mit den schimmernden Rändern des auf dem Kopf stehenden Eisbergs verbanden.
    »Irgendetwas nähert sich«, sagte Jebrassy. »Und es hat nichts mit Passwegen zu tun. Sie sind keine Monster, sondern etwas anderes. Ich kann es spüren.«
    »Ich auch«, erklärte das Epitom. »So wie sie alle.«
    Ringsum vernahmen sie ein schwaches, schrilles Geheul, das entsetzlich klang: so als mische sich das Röcheln erstickender Wesen mit Gebrüll und Warnrufen. Die Riesen, die die Berge säumten, bemühten sich zu sprechen. Manche schienen auch darum zu kämpfen, sich endlich aus der Erstarrung zu lösen. Sie schüttelten sich und entfernten mit steifen Bewegungen Ruß und Schotter von ihren Fundamenten.
    »Sie haben das schon einmal erlebt«, sagte das Epitom. »Genau dieser Anblick hat sie bis ins Mark erschüttert und ihr Blut erstarren lassen, so dass sie zu Fossilien versteinert sind. Vor eben dieser Situation wollte der Zeuge uns warnen; er versucht es schon seit einer halben Ewigkeit. Der Typhon kann sich jetzt nirgendwo mehr verstecken. Er kommt mit all seinen Dienern hierher. Mit all jenen, die er gefangen genommen und gefoltert hat. Hier werden wir meine Tochter finden.«

99
    Das Sehen war nicht leichter geworden. Die Optik war so verzerrt, dass es auch nichts nützte, den Kopf schräg zu legen oder die Augen zusammenzukneifen. Selbst innerhalb der Schutzblase – Jack hoffte, niemals erklären zu müssen, was es mit dieser Blase auf sich hatte – verletzte und beleidigte das, was er sah, seine Augen.
    Jeder Ort, an dem es Leben gibt, dachte er, weist sowohl Zerfall als auch Wachstum auf, so wie das Gemisch aus abgestorbenen und jungen Bäumen in einem Wald. Selbst eine Stadt, die im Krieg eingeäschert, geplündert und zerstört worden ist, gebiert Neues. Doch hier gibt es nur noch ein Abfinden mit dem Unerträglichen, Mutlosigkeit, eine Abgestumpftheit, die den Geist und die Willenskraft lähmt und jede Begeisterung dämpft. Eine Trägheit, die alles Schützen und Bewahren verhindert. An diesem Ort herrscht nur mehr Zerfall, ohne jeden Lichtblick.
    Jack war sich darüber im Klaren, dass Glaucous erneut versucht hatte, sich seine Zuneigung und sein Vertrauen zu angeln, um auch den kleinen Fisch in diesen oder jenen Fangkorb zu befördern. Und wenn es bei ihm nicht klappte, gab es ja auch noch Daniel. Selbstverständlich war Daniel ein Schwindler. Ohne sich tatsächlich irgendwo einzuschleimen, schlich er sich überall ein, und ohne den Mund aufzumachen, log er. Selbst wenn seine Lippen etwas Wahres äußerten, täuschten sie einen, denn es waren nicht seine Lippen . Glaucous war kaum besser: Seiner Gestalt nach echt, aber diese Gestalt war noch schlimmer als jede Lüge.
    Und trotzdem mussten sie nah beieinanderbleiben. Ihre Körper wehrten sich gegen das, was außerhalb der Schutzblase lag. Man durfte höchstens sechs oder sieben Schritte hinter die anderen zurückfallen – niemand von ihnen wagte es, sich weiter zu entfernen –, denn sonst litten sie alle unter Erschöpfung, Atemnot, Kopfschmerzen und Niesanfällen, wobei Blut aus der Nase, den Ohren und den Fingerspitzen sickerte. Sie waren von Ruß und Streifen abgewischten Blutes besudelt. Was durch die Schutzblase drang, waren so etwas wie saure, ekelhafte Phantomgerüche, die nach Wahnsinn und Brand stanken. Niemand hätte hier sein sollen. Dieser Ort duldete keine Eindringlinge.
    Inzwischen konnten sie fast nichts mehr erkennen: in einiger Entfernung eine Art Lichtpunkt, der matt aufglomm, ringsum aufgewühlte Dunkelheit, eine in sich zusammenfallende Leere, ein trübes Nichts – die vollständige Abwesenheit von Belebtem und Unbelebtem. Und das war fast genauso beunruhigend wie die genauer umrissenen Scheußlichkeiten, die sie bis jetzt gesehen hatten.
    Hin und wieder nahmen die eingestürzten und durcheinandergeworfenen Dinge ringsum plötzlich den trügerischen Anschein einer Landschaft an, die sich ebenso plötzlich wieder auflöste – schlechte Arbeit – und in den Zustand völliger Leere zurückfiel.
    Irgendetwas schien diese Leere zu umgeben und sich kurz zu drehen, als befände es sich innerhalb eines Rades oder Kreisels, doch gleich darauf verschwand es wieder. Vielleicht war es nie da gewesen.
    Das Muster auf dem Kästchen.
    Für Ginny hatte Jack die Hoffnung fast schon aufgegeben. Sie hatten keine Spur von ihr gefunden, was kein Wunder war,
denn der Boden unter ihren Füßen fühlte sich

Weitere Kostenlose Bücher