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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Tiadbas Gesicht so nahe war, spürte sie keinen Atemhauch oder Luftzug. Allerdings lag eine seltsame Süße in der Luft, wenn auch sonst nichts ihre Sinne ansprach.
    Tiadba war äußerst bestürzt. Sie dachte daran, wie sie mit Jebrassy im Bett gelegen und mit ihm geschlafen hatte, wie sie beide versucht hatten, die uralten Geschichten zu entschlüsseln. Sie dachte auch an die Augenblicke im Chaos, in denen sie, um ihre Gefährten zu beruhigen und das Wissen mit ihnen zu teilen, aus den Büchern vorgelesen hatte, die sich ständig veränderten. Aber diese Geschichten hatten niemals ein Ende gehabt, und die Wörter waren oft schwer zu deuten gewesen.
    Doch angesichts dieser kalten, erschreckenden Schönheit konnte Tiadba nicht anders, als ihr ein Fünkchen Hoffnung zu geben. »Vielleicht habe ich ihn gesehen, ohne ihn zu erkennen«, sagte sie und spürte dabei, wie ihre Lippen taub wurden. »Sag mir, wie er aussieht.«
    »Ich kann mich nicht mehr daran erinnern .« Traurigkeit und beißende Kälte legten sich wie Nebel zwischen sie. »Es bleibt keine Zeit mehr, überhaupt keine Zeit …« Worte wie im Todeskampf taumelnde Insekten. »Du hast mir nichts mitgebracht. «
    »Es tut mir leid …« Tiadba suchte nach einem Wort und fand es in der Erinnerung ihres anderen Selbst. »Es tut mir so leid, Mutter .«
    »Auch mir tut es leid, Sprössling des Hortes. Du kannst gar nicht wissen, wie leid. Es wäre für uns beide eine Gnade, könnten wir sterben.«

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    »Wir werden sie niemals finden«, sagte Daniel. »Wir sind verrückt, uns überhaupt hier draußen herumzutreiben.«
    »Was sollen wir denn deiner Meinung nach tun, junger Herr?«, fragte Glaucous.
    »Alles ist jetzt anders«, bemerkte Jack. »Und es wird nur noch sonderbarer werden. Vielleicht wird’s ja auch besser.«
    Die Öffnung zwischen den monströsen Skulpturen – der Durchgang, der zu dem Trichter mit der unglaublich bizarren
Stadt führte – hatte sich hinter ihnen geschlossen. Es war so, als hätte sie niemals existiert.
    »Drei Wahlmöglichkeiten«, sagte Glaucous. »Diese hier ist die beste.«
    »Du hast doch gesagt, die Kalkfürstin residiere gleich um die Ecke, stimmt’s?«, fragte Daniel. »Warum stürzt sie sich dann nicht einfach auf uns und packt uns?«
    Glaucous blieb stehen. Sein Atem pumpte und zischte wie eine ersterbende Dampfmaschine. »Jedenfalls ist sie hier«, erklärte er.
    »Was, glaubst du, wird passieren?«, fragte Daniel.
    »Mich wird sie freigeben, ohne Belohnung, ohne Strafe. Wird mir einfach ein Ende machen. Mehr verdiene ich nicht – aber auch nicht weniger.«
    Als er weiterging, wirkte er wie ein schon seit langem leidendes wildes Tier.
    Daniel konnte kaum noch atmen. Ein Gefühl von Schwere und Druck lag wie Blei auf seiner Brust. Er versuchte zu verstehen, was in physikalischer Hinsicht vor sich ging, doch es gelang ihm nicht recht. »Die Vakuumenergie kehrt zum Nullzustand zurück«, murmelte er. »Das Higgs-Feld kollabiert, weil es zu klein ist.«
    »Was?«, fragte Jack.
    »Nichts. Wir sind verloren.«
    Tatsächlich sah es so aus, als bliebe ihnen keine Chance mehr. Von Anfang an hatte die Landschaft ringsum völlig verrückt gewirkt, doch jetzt bestand sie fast nur noch aus absurden, düsteren Silhouetten, Bahnen und Pfaden. Längst hatten sie die Regionen verdichteter und zerfallender Geschichte hinter sich gelassen und waren durch irrwitzige Tummelplätze
dessen gezogen, was die ineinandergeschobene Zeit außerhalb ihrer Schutzblase angerichtet hatte. Und nun befanden sie sich schlicht und einfach im Nirgendwo.
    Nur gut, dass dieses Nirgendwo immer mehr zusammenschrumpfte.
    Daniel sah den beiden anderen ins Gesicht. »Die Steine zerren immer noch in eine bestimmte Richtung.«
    Kopfschüttelnd übernahm Jack die Führung.
    Es gab immer noch ein Oben und Unten, ein Vorwärts und Seitwärts, aber kein Zurück. Allerdings war die Begrenzung der Bewegungsfreiheit sogar ein Segen in diesem Gebiet ohne Eigenschaften. Von vornherein verbot sich jeder Gedanke, umzukehren und eine andere Route auszuprobieren. Irgendetwas ließ das nicht zu.
    »Ganze Zahlen«, murmelte Daniel.
    Als Jack in tieferen Schatten eintauchte, verloren Glaucous und Daniel ihn einen Moment lang fast aus den Augen, obwohl er nur zwei oder drei Schritte vor ihnen ging.
    »Jack!«, rief Daniel.
    Als sie zu ihm aufgeschlossen hatten, schnaufte Glaucous wie eine Dampflok und geriet ins Stolpern.
    »Du bist eine ganze Zahl«, erklärte Daniel. »Eine

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