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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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ganze Galaxien, Welten und Sterne verschlang, kämpften immer noch Menschen gegen Menschen.
    Nataraja, das diesen Aberwitz erkannte, löste sich aus den Bündnissen und nahm alle auf, die vor den Noetikern und Eidola flohen. Das ging so lange, bis die Kalpa sich einkapselte, ihre Verteidigungsanlagen konzentrierte und die anderen sechs Städte ihrem Schicksal überließ.
    Fünf Städte fielen bald darauf.
    Nataraja, vom Chaos offenbar für zuletzt aufgespart, musste sich mit dem Vorrücken des Gegners ganz allein herumschlagen.
    Man hatte Ishanaxade unmittelbar vor der feindlichen Einnahme der Stadt nach Nataraja entsandt. Es folgten schreckliche Tage. Alles schien bereits verloren, und dennoch hatten die Bürger sich tapfer gewehrt – Devas, Instandsetzer, Gestalter, Aschuren und selbst einige Noetiker mit Gewissen.
    Die Tochter des Bibliothekars hatte zugesehen, wie Nataraja und seine Bewohner alles nur Mögliche taten, um dem Typhon – diesem unbekannten Phänomen, das so geistlos, doch zugleich böswillig und überaus mächtig war und den ganzen übrigen Kosmos umgewandelt hatte – die Stirn zu bieten.
    Auch in Nataraja errichteten sie Barrikaden und Schutzschilde, indem sie die Stadt mit all ihren uralten Texten sicherten. Hastig meißelten sie diese Texte in Stein oder verewigten sie mit Hilfe des Lichts und speicherten sie in dem metrischen System ab, das aller Energie und Materie zugrunde liegt. Inskribierten sie in Moleküle und Atome und alle anderen bekannten Elemente von Materie, projizierten sie zur Abwehr der vordringenden Membran der Regellosigkeit in den Himmel. Schrieben alles auf, was von den Bibliotheken einer hundert Billionen Jahre alten Geschichte noch übrig war.
    Aber das reichte nicht aus.
     
    Die Erinnerungen wandelten sich. Das war das erste Anzeichen für den Triumph des Typhon. Die Aschuren und die kleine Gruppe der Noetiker verschwanden fast sofort und als Erste. Überall in der Stadt verblassten die Aufzeichnungen und Texte. Zunächst brachten die Menschen die Erinnerungen an ihr Leben durcheinander, dann büßten sie ihr Gedächtnis vollständig ein. Erst verzerrten sich die Schicksalslinien, dann fielen sie ins Vergessen und lösten sich zu grobkörnigem dunklem Staub auf – für einige wenige eine letzte Gnade.
    Bis zu den letzten Sekunden der Freiheit versuchten Natarajas Philosophen die neue Ordnung zu begreifen, aber hier gab es nichts zu begreifen, denn es herrschte nur noch ein unaufhörlich brodelndes Chaos. Ein Wandel, der kein Ziel verfolgte.
    Die Gefühle und Sinne der Menschen schienen beim Typhon nur Verwirrung und Qualen auszulösen.
    Der Typhon sondierte die verbliebenen Gemüter, die Erinnerungsspeicher, die Seelen aller Lebewesen und stellte dabei Fragen, die schon an sich ausreichten, manche in den Wahnsinn zu treiben. Zu sehen bedeutete Schmerz. Sich zu erinnern eine neue Art des Vergessens.
    Was den Typhon umtrieb, war pure Neugier. Selbst nach Billionen Jahren voller angestrengter Bemühungen hatte er keine Rezeptur für seinen Kosmos finden können. Also verdoppelte er seine Bemühungen und beschleunigte seine Fehlschläge. Das Chaos war ein Stückwerk, schlecht ersonnen und schlecht ausgeführt. Überall zum Scheitern verurteilt, außer an der riesigen Membran des Wandels, der multidimensionalen Stirnseite, an der sich der alte Kosmos rieb, bis er vom Chaos verschluckt und einverleibt wurde.
    Nur Ishanaxade wurde verschont, damit sie alle Erinnerungen in sich bewahrte, genau wie ihr Vater es von Anfang an, seit seinem Aufenthalt bei den Shen, vorhergesehen hatte.

107
    Das Gebilde erinnerte Ginny an eine riesige Blume. Es war viel größer als sie und ragte im Schatten des trügerischen Stadtkerns aus dem zerborstenen, gewölbten Pflaster auf. Die unbefestigten Ruinen in Schräglage wirkten so wie von der Ebbe zurückgelassenes Strandgut. Oder wie vermoderte Weihnachtsbäume,
die auf einem widerlichen Abfallhaufen gelandet waren, seltsamerweise aber immer noch den vollen Festtagsschmuck trugen. Nur hatten diese Ornamente das Ausmaß ganzer irdischer Kleinstädte. Und natürlich fehlten die Baumlichter. Die waren schon vor langer Zeit ausgegangen.
    Inmitten dieses Friedhofs der Architektur nahm die Blume – oder war es ein Pilz? – plötzlich ein gespenstisches Eigenleben an. Als Ginny das Gebilde umkreiste, merkte sie, dass es aus langen Armen, Beinen und Rümpfen bestand und hier und da sogar ein Kopf hervorlugte. All diese Körper, die zusammen den

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