Die Stadt am Ende der Zeit
möchtest meine Entdeckungen mit mir teilen und mit mir zusammen genießen.«
»Ich habe stets Teil an den Entdeckungen, die irgendjemand macht«, erwiderte Ishanaxade. »Das ist wirklich wahr. Aber wenn ich menschliche Gestalt annehme … Was du jetzt siehst, ist nicht alles, was von mir übrig ist. Ich bestehe aus zwei Wesenheiten.«
»Und wer ist die andere?«
»Sie ist stets bei mir, ist niemals von mir getrennt. Vielleicht hat Polybiblios dich schon gewarnt.«
»Nein, das hat er nicht.«
»Und die Shen haben es gar nicht erwähnt?«
»Was dich betrifft, haben sie überhaupt nichts erwähnt. Meine Besatzung hat eine schwierige Reise hinter sich. Vielleicht wollten sie uns keinen Schrecken einjagen.«
»Na ja, manche Shen finden mich tatsächlich überaus erschreckend und wären froh, wenn mein Rätsel endlich gelöst wäre oder wenn sie mich loswerden könnten. Denn ich inspiriere nicht nur, ich greife auch in Dinge ein und korrigiere sie.«
»Und was ist so schlimm daran?«
»Manche Dinge kann man nicht korrigieren. Und solche Dinge lasse ich so verschwinden, als hätte es sie nie gegeben. «
Während Sangmer sie genau beobachtete – das, was er von ihr sehen konnte –, hatte er das Gefühl, in den wunderschönen, changierenden Umrissen ein dunkles Ebenbild von ihr zu erspähen. »Dann solltest du das Chaos verschwinden lassen!«
»Oh, meine zerstörerische Seite ist auch nicht mächtiger als meine inspirierende, solange Brahma schläft. Jedenfalls hat man mir das gesagt, und ich glaube es.«
Sangmer runzelte die Stirn. »Na ja, was immer du auch sein magst, jedenfalls bist du die außergewöhnlichste fast menschliche Frau, der ich je begegnet bin – und ich habe einige wunderbar fremdartige Frauen gekannt. Außerdem auch manche Geschöpfe, die gar nichts Weibliches an sich hatten, wie die Aschuren …«
Während er sprach, schien sich Ishanaxade noch mehr zu verdichten. »Erzähl mir von denen, die du als schön empfunden hast«, sagte sie. »Ich würde nämlich gern erfahren, was dich an ihnen so angezogen hat.«
Das tat weh. Ein Aufschrei unendlicher Verzweiflung drang durch die riesige dunkle Halle und verlor sich ohne Widerhall in den alles erstickenden Trümmern.
Wo ist er? Warum kommt er nicht?
109
Jack blickte über die Schulter. Schon seit einiger Zeit hatte er Glaucous und Daniel bewusst abgehängt und orientierte sich nur noch am Zerren seines Steins. Es spielte keine Rolle mehr, ob er den beiden traute oder nicht (selbstverständlich traute er ihnen nicht), vielmehr ging es ihm jetzt darum, sich selbst zu testen und festzustellen, was er auf eigene Faust erreichen konnte.
Die endlosen Meilen voller Trümmer erzeugten eine ganz besondere Art von Stille, die tiefer war als die Abwesenheit von Geräuschen. Hier, wo er kurzzeitig völlig allein war und niemand ihn ablenkte oder störte, versuchte er nachzudenken und sich daran zu erinnern, wo er überall gewesen war und was er dort gesehen und gehört hatte, um es in ein Gesamtbild einzufügen. Irgendwie fiel es ihm dadurch leichter, die Dinge klarer zu sehen und zu durchdenken.
Er pfiff leise und unmelodiös vor sich hin, holte den Stein heraus und bemühte sich, dessen leichten Ruck zu deuten. Irgendwann – denn hier existierte die Zeit nicht mehr – führte der Stein ihn zu einer riesigen senkrechten Konstruktion, die sich oben bis ins Dunkel erstreckte. Es war eine windschiefe, schräge Konstruktion, die den Umfang eines auf den Kopf gestellten Manhattan haben mochte. Überall war dieses Gebilde mit monumentalen Ornamenten übersät, die längst zerstört waren. Jedes Motiv unterschied sich vom anderen, doch alle schimmerten grausilbern.
Was, wenn er hier tatsächlich durch die hängenden Ruinen einer Stadt der Zukunft spazierte? Hatten hier früher Menschen gelebt? Hatte das, was in Seattle eingefallen war und der
Stadt das Leben ausgesaugt hatte, auch ihnen das Leben ausgesaugt, alles zusammengequetscht und gleichgemacht?
Jack hatte sich nie sonderlich für Philosophie interessiert, aber das war tatsächlich eine knifflige Frage, die zum Philosophieren herausforderte. Er konnte hier herumspazieren, vor sich hin pfeifen, Dinge betrachten – und darüber staunen –, und doch gab es hier eigentlich nichts, was im herkömmlichen Sinne irgendwie plausibel war. Und das galt auch für die Zeit. Es gab nur noch seine persönliche Zeit; er konnte immer noch Erinnerungen in sich erzeugen …
Und war das nicht genau das, was ZEIT
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