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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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der Realität einfach aufheben konnte. Was konnte dieses Etwas einer von Menschen geschaffenen Stadtarchitektur antun, die sich auf Ingenieurskunst, Schwerkraft und das grundlegende Gleichgewicht von Masse und Energie stützte und stützen musste? Er konnte es sich mühelos ausmalen; die Ergebnisse schienen ihm geradezu in den Kopf zu schießen, viel plastischer als irgendeine jüngere Erinnerung. Die Stadt war so gestorben wie ein von großen Bestien umzingeltes Tier: zu Boden gestreckt, aufgerissen, so dass die Innereien herausquollen … Und dann war Nataraja kollabiert – und zermalmt worden, als wären riesige Stiefel darüber hinweggestampft.
    Ein Loch, so groß, dass man einen kleinen Berg hätte hindurchschieben können, ließ jetzt einen Streifen trüben Lichts von draußen herein. Der Streifen bewegte sich mit eigener Willenskraft, streifte die Trümmerhalden, verschmolz kurzzeitig mit anderen herumgeisternden Lichtbalken, schnitt durch den schwachen Schimmer, der durch breite Risse in der zerstörten Außenmauer drang. Winkel und Intensität dieser züngelnden Streifen trüben Lichts veränderten sich ständig.
    Das, was von Daniels Verstand noch übrig war, hatte sich sauber in dickflüssige Schichten aufgeteilt – in Heiß und Kalt. Jetzt quoll aus uralten, fast schon vereisten Regionen seines
Ichs etwas hervor, das ihm offenbar dabei helfen wollte, das zu rekonstruieren, was er in Wirklichkeit niemals selbst erlebt haben konnte.
    »Ich träume nicht. Ich habe weder von dieser Stadt noch einer anderen geträumt.«
    Doch ständig drängten weitere Erinnerungen an zahlreiche historische Städte an die Oberfläche, ohne dass er wusste, was diese Städte miteinander verband. Manche waren der Belagerung oder der Pest anheimgefallen, andere in Schutt und Asche gelegt worden, und die Bewohner hatten die Trümmer später zusammengeharkt und mit Salz bestreut. Daniel bewegte sich von einem Schicksalsfaden zum nächsten, sogar von Leben zu Leben und von Körper zu Körper. Vielleicht hatte er all diese Dinge wirklich erlebt – wer konnte die Möglichkeit bestreiten?
    Aber das Ende dieses Ortes, den Untergang von Nataraja hatte er bestimmt nicht mit eigenen Augen beobachtet, denn daraus wurde er überhaupt nicht schlau. Er wusste, spürte, dass Nataraja etwas ganz Besonderes, die wunderbarste Stadt ihrer Zeit gewesen sein musste, noch wunderbarer als die Kalpa – wo immer, was immer die Kalpa sein mochte.
    »Sagt mir, wer ich bin!«, rief Daniel, während er die eingestürzte Fassade hinaufkletterte. »Ich träume nicht, hab’s nie getan. Wenn ich schlafe, ist da nur Schwärze.«
    Das Chaos hatte die Erdoberfläche mit einer mehrdimensionalen Woge überspült, die letzten Enklaven der Menschheit von oben, unten und allen Seiten in die Zange genommen und dabei sowohl ihre Schicksalslinien durchtrennt als auch den Zugang zu ihnen in Raum und Zeit blockiert. Das war die Methode, mit der das Chaos die Umwandlung des Kosmos betrieb,
die Herrschaft an sich riss und seine Eroberungen zu unglückseligen Orten machte, an denen nur noch Lug und Trug regierte.
    Nachdem es sich durch die meisten Stränge der Kausalität gebrannt hatte, hatte es sich zurückgezogen, als wäre es erschöpft oder unsicher, was es mit seinen neuen Herrschaftsbereichen anfangen sollte. Und danach hatte es seine Anstrengungen auf die sondierende Wellenfront gerichtet, auf die Membran, die in die Schicksalsfäden eindrang, sie durchschnitt oder umzingelte, wie Daniel es so oft erlebt hatte.
    Was das Chaos hier zurückgelassen hatte, war der Rumpf einer Stadt, die nicht durch Flammen versengt, nicht durch physische Vernichtung so klein gemacht worden war. Nein, der Verlust der Geschichte, die Widersinnigkeit hatten Nataraja mürbe gemacht und aufgezehrt.
    Diejenigen, die hier gelebt hatten, hatten am meisten gelitten. Die Bauwerke, die einst für ihr Wohlbefinden und ihre Sicherheit gesorgt hatten, hatten sich der Zerstörung widersetzt und um den Wiederaufbau bemüht. Zumindest hatten sie sich irgendwie aufrecht halten wollen, doch sie waren immer wieder neuen Sanktionen ausgesetzt gewesen, so dass sie schließlich abstarben, verfielen oder auf entsetzliche Weise wiederauferstanden. Und schließlich hatte die Stadt aufgegeben.
    Das war das Vermächtnis, das das Chaos in allen eroberten Regionen hinterließ.
     
    Daniel kletterte zu dem massiven Rand der Fassadenwand hinüber. Die Schmerzen und die Erschöpfung, die dieser geborgte Körper

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