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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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empfand, waren ihm gleichgültig. Der obere Teil der Wand – er umfasste mehrere Tausend Meter – hatte im Laufe
der Zeit einen Überhang gebildet, war abgebrochen und hatte sich kreuz und quer über die anderen Baukonstruktionen verteilt, bis hinunter zu den untersten Fundamenten, die im Dunkel lagen.
    Sobald er mit Händen und Füßen die Mauer berührte, sprangen von Haut, Knochen und Muskeln zischend ein paar blassblaue Funken auf: Atome, Teilchen – Materie, die sich verblüfft in ihm wiedererkannte und versuchte, eine widernatürliche Bilokation, ihre Präsenz an zwei Orten zu gleicher Zeit, zu korrigieren. Aber das hier war nicht das wunderbare Wiedererkennen, mit dem er aufgrund seiner alten/jungen Erinnerungen und der neuen Hinweise seiner tiefsten inneren Schichten rechnete.
    Er war einen sehr weiten Weg gegangen, hatte viele Zeitspannen durchmessen, um bis hierher zu gelangen.
    Da draußen in den Trümmern wartete ein viel wichtigeres Wiedersehen auf ihn.
    Ohne auf die kleinen blauen Lichtspeere und Funken zu achten, hockte er sich auf den Mauerrand und nahm seine beiden Steine aus den Kästchen. Wie immer wollten sie sich nicht zusammenfügen. Einer sah auch älter aus als der andere, falls das überhaupt möglich war. Der Form nach ähnelten sie sich, aber sie waren für andere Verbindungen vorgesehen. Einer der Steine zog stark nach links unten. Zugleich vernahm Daniel ein primitives, widerwärtiges Geheul, das ringsum widerhallte. Es klang so, als mache ein wildes Tier seinem Schmerz Luft. Gleich darauf drang das Geheul sonderbarerweise mit Dopplereffekt von unten nach oben und erzeugte erneut ein Echo.
    Den Ruinen schien es zu gefallen. Sie spielten mit dem Ton, warfen ihn vor und zurück. Die herunterbaumelnden mobilen
Konstruktionen erbebten, ergossen ihren Rost über die schräge Fassadenwand und setzten sich wie auf Befehl der unbekannten Geräuschquelle in Bewegung. Es gelang ihnen sogar, sich auf den silbernen Verbindungsgleisen einige Dutzend Meter vorwärtszuschieben. Doch dann fraßen sie sich fest und blieben aufkreischend stehen, während sich Teile, so groß wie die alten Häuser in Wallingford, aus ihnen lösten und hinabstürzten.
    Bestimmt ist es nicht das erste Mal, dass dieser Schmerzensschrei durch ganz Nataraja hallt, dachte Daniel. Er legte den nicht aktiven Stein zurück in das Kästchen und verstaute es in der Hosentasche. Den anderen Stein behielt er in der Hand, wo er erst warm und dann heiß wurde. Kummervoll senkte er den Kopf. Dieses Wehklagen … Das war kein wildes Tier gewesen, sondern …
    … eine Frau.
    Erneut wollte der Stein ihn in eine bestimmte Richtung zerren. Im Augenblick war das der einzige Teil von ihm, der Entschlusskraft und Orientierung bewies. Wie viele Menschen hatte er getötet oder aus dem Weg geräumt, um hierherzugelangen. Und jetzt würde es tatsächlich zu einem Wiedersehen kommen, aber diese Begegnung würde nichts lösen.
    Denn solche Begegnungen lösten niemals irgendetwas.
    Hatten es niemals vermocht.

111
    Über ihren Köpfen bebte das Trümmergewirr von Nataraja. Das gefürchtete, schon allzu vertraute Geräusch kündigte einen neuerlichen Zusammenbruch der Stadt, ihre weitere Verdichtung an. Es klang so, als stürzten Berge zu Tal, fielen Höhlen ein, wirbelten Staubmassen auf und rieselten zu Boden.
    Glaucous merkte, wie sein Körper sich innerlich so verkrampfte, als wäre er zwischen Finger und Daumen eines Riesen eingeklemmt.
    Whitlow humpelte immer noch voraus. So wie er sich mühsam den Weg durch die Trümmerhalden der Stadt bahnte, ähnelte er einem Mistkäfer, der sich durch den Morast tastet. Hin und wieder streifte ihn der Nachtfalter – diese nicht zu ortende graue Eminenz ohne reale Substanz –, um ihm die Richtung zu weisen. Schließlich schlurfte Glaucous Whitlow wieder hinterher. Mittlerweile schmerzte ihn jeder Atemzug, und auch die Augen taten ihm weh, da Licht und Schatten in dieser Totenstadt ständig wechselten.
    Irgendwann blieb Whitlow stehen, rieb sich die Bartstoppeln und musterte Glaucous so kritisch, als wäre er Schuld an ihrer Lage. »Ist noch kleiner geworden«, sagte er. »Alles ist weiter geschrumpft. Auch die Entfernungen und Himmelsrichtungen haben sich verändert. Ist Ihnen das aufgefallen? «
    »Ja.« Glaucous zog die Schultern ein. So müssen sich Bergarbeiter in einem eingestürzten Schacht fühlen, wenn ihre Kerzen in der giftigen Atmosphäre verlöschen.
    »Ist aber noch längst nicht

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