Die Stadt am Ende der Zeit
Schicksalsfäden und tun sich mit anderen zusammen. Werden für gewisse Zeit zu anderen Personen. Ein verzweifelter Trick. Denn das unterbricht ihre Traumfährten, und sie vergessen all ihre Traumerlebnisse. Dennoch verfügen sie immer noch über Integralläufer und werden auch weiterhin von ihnen gelenkt …«
Glaucous spürte, wie eine riesige weiche Hand ihn leicht an der Schulter berührte, und roch gleichzeitig widerlich
süßen Pulvergestank. Mottenkugeln. Der Nachtfalter war wieder da.
Whitlow setzte sich in Bewegung. Wegen des Klumpfußes schaukelte er bei jedem Schritt hin und her. »Nur gut so. Man sollte hier nicht einfach so abtauchen! – Was wir entdeckt haben, ist wirklich rätselhaft«, fuhr er, zu Glaucous gewandt, fort. »Der Vorhang ist jetzt aufgerissen, so dass man deutlich sehen kann, wie sich die Kräfteverhältnisse verschoben haben. Wir vermuten, dass der Kalkfürstin die Dinge aus den Händen genommen wurden. Aber wir müssen noch eine weitere Meinung dazu einholen.«
Glaucous senkte den Kopf.
»Vielleicht weiß sie es auch noch gar nicht. Nicht nur die Entfernungen sind geschrumpft.« Whitlow zog Glaucous nahe zu sich heran. »Selbstverständlich verheißt das dem Nachtfalter nichts Gutes«, flüsterte er ihm ins Ohr, kniff ein Auge zusammen und legte den Finger an die Lippen.
Der Nachtfalter sorgte dafür, dass sie weitergingen, trieb sie voran, allerdings nicht unsanfter als unbedingt nötig. Glaucous spürte eine Veränderung: Es kam ihm so vor, als hätte ihn etwas versengt und seine Haut mürbe gemacht. Bald darauf legte sich das Gefühl, und ein anderes trat an seine Stelle. Er meinte, am ganzen Körper tätowiert zu werden. Die brennenden Stiche, ausgelöst durch die Schicksale anderer Jäger, waren eine neue Erfahrung für ihn. Üblicherweise lebte man als Jäger der eigenen Bestimmung gemäß; doch diese Jäger bestimmten ihn , untersuchten sein Leben , unterzogen es einer schnellen, unpersönlichen und grundsätzlichen Prüfung. Nie zuvor war Glaucous so unmittelbar mit den grundlegenden Schichten der eigenen Existenz konfrontiert gewesen. Einerseits war das
ein entsetzliches, andererseits ein beglückendes Gefühl. Doch nicht nur das: Nie zuvor war die Erklärung für sein Leben, seine Existenz so greifbar gewesen. Und auch eine letzte Hoffnung erwachte in ihm: die Hoffnung auf Sühne, falls ihm diese Chance noch eingeräumt wurde.
An Glaucous erging das anonyme Angebot, der Gnade teilhaftig zu werden – indem er vor dieser unbekannten Instanz eine Beichte ablegte. Reinen Herzens.
Das Stechen legte sich. Doch jetzt roch er nicht nur Pulver, sondern löste sich selbst zu Pulver auf. Er stand zwar noch aufrecht da, fiel jedoch im Sekundentakt auseinander, um sofort wieder zusammengefügt zu werden. Der Nachtfalter schützte Glaucous und Whitlow, so gut er es vermochte.
»Willkommen im Mittelpunkt des Universums«, hörte er Whitlow sagen oder denken.
Ihre Augen (Glaucous kam es so vor, als wären sie gar nicht mehr mit Körpern verbunden) blickten auf ein tiefschwarzes Becken, in dem zwei lange Stäbe eine zähe Flüssigkeit quirlten. Unter der Oberfläche trafen die Stäbe aufeinander und rotierten wie eine Getriebewelle. Doch gleichzeitig wechselte die Bewegung so, als würden die Facetten eines Riesenjuwels geschliffen.
»Das Kreuz hat weder Mittelpunkt noch Radius«, erklärte Whitlow. »Stellen Sie sich auf ein grässliches Überbleibsel anderer Zeiten ein. Früher einmal hat hier eine starke Kraft all ihren Frust und Kummer konzentriert. Sie hat sich unsere Welt einverleibt und in ekelerregenden Brocken wieder ausgekotzt. Sie werden es gleich spüren.«
»Der Typhon?«, fragte Glaucous.
Whitlow zuckte die Achseln. »Diese Stahlstäbe stellen die beiden letzten Schicksalsstränge dar. Der eine Strang bedeutet,
dass der Typhon scheitert und wir alle in ein Nichts übergehen. Der andere Strang … dass der Typhon in gewisser Hinsicht Erfolg hat. Und wer kann schon sagen, was besser wäre? Also … Verraten Sie uns, wo wir stehen. Ziehen Sie an dem besseren Strang. Und dann sagen Sie uns, was wir jetzt noch tun können. Diese Gabe haben Sie als Glücksjäger doch, oder nicht?«
Glaucous konnte die Augen nicht schließen, fand keine Rückzugsmöglichkeit in eine private Sphäre, in der er seine Entscheidung ungestört hätte treffen können. Doch das spielte keine Rolle mehr, denn seine Entscheidung stand längst fest. Schon seit mehr als fünfzig
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