Die Stadt am Ende der Zeit
Luft auf. Allerdings weiß er nicht, was dagegen spricht. Offensichtlich werden jetzt auch die letzten der alten Regeln, die der Typhon nachgeäfft, umgewandelt und schließlich missachtet und missbraucht hat, für immer aufgehoben.
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Der Stein ist jetzt so heiß, dass Jack ihn kaum noch halten kann. Doch er lässt ihn nicht los, und es ist ihm völlig gleichgültig, ob seine Finger dabei verkohlen. Ginny umklammert ihren Stein bestimmt noch, da ist er sich sicher. Doch was ist mit Daniel?
Bläuliche Adern steigen aus dem grünen Eis empor, beginnen sich zu öffnen und aufzuschäumen.
Es gibt zwei Pfade. Schon seit einiger Zeit gibt es nur noch zwei Pfade, zumindest seit dem Tag, als er, geistig völlig weggetreten, Fahrrad fuhr und den Ohrenkneifer im Hafenbezirk mit den Lagerhäusern entdeckte. Aber er weiß nicht, welcher von beiden Pfaden dieser hier ist.
Erneut schaltet er auf Autopilot.
Sieht mit den Augen eines anderen.
Starrt auf andere, nackte Füße hinunter und sieht eine Katze mit hochgerecktem Schwanz davonlaufen. »Kat-se«, murmelt er mit tauben Lippen.
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Tiadba empfindet kaum noch etwas. Ihre Gefährten kann sie nicht mehr sehen. Sie befinden sich am Rande ihres Blickfelds – dunkle Haufen von verstrickten Gliedmaßen und abgelegter Kleidung, weder lebendig noch tot. Sie schlafen nicht einmal.
Am besten wären sie tot.
Die weibliche Erscheinung hat sich wie ein Umhang um sie gehüllt. Doch eigentlich sind es jetzt zwei Erscheinungen, und sie kann beide spüren.
Die eine ist kalt und beängstigend. Eingesperrt in dieses rotierende Gefängnis, das man eher fühlen als sehen kann, ruft sie in der Dunkelheit nach ihren verschollenen Kindern – mit der einzigen Absicht, sie zu vernichten.
Die andere dagegen ist uralt und voller Potenzial.
Das Gefängnis wird eine von beiden dabehalten und die andere freilassen.
Tiere streichen vorbei, schnüffeln an ihren nackten Füßen, reiben sich an ihren Armen und ziehen danach weiter. Sie jagen irgendetwas Kleines, Schwaches.
»Kat-sen«, sagt sie und probiert das Wort gleich noch einmal aus. »Kat-sen.«
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Ginny konzentriert sich so sehr auf das Blickfeld und die Erlebnisse der anderen Frau – der verschollenen Tiadba –, dass sie gar nicht spürt, wie etwas sie an der Schulter berührt. Bis es zu spät ist.
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Whitlow geht auf das Kind zu, das auf dem Eis kniet, als müsse es wieder zu Atem kommen. Das Mädchen dreht sich nicht nach ihm um, hört nichts und sieht anscheinend auch nichts.
Während Whitlow die letzten paar Schritte zu dem Mädchen hinüberhumpelt, strahlt sein blasses, runzliges Gesicht vor hinterhältigem, böswilligem Vergnügen. Auch der als grauer Nebel allgegenwärtige Nachtfalter verbreitet Siegesfreude.
»Für unsere Bleiche Gebieterin«, sagt Whitlow sachlich, während er das Mädchen mit einer Hand hochzieht. »Eine letzte Lieferung. Unser größter Triumph.«
Letzteres sieht Glaucous genauso.
Mit aller Kraft streckt er die Fäuste vor und spielt dieses Spiel, wie noch kein Spiel gespielt worden ist: Er zieht einen einzelnen stählernen Strang aus den herumwirbelnden Sphären. Und während er aus dem Grunde seines Herzens aufstöhnt – es ist das Stöhnen der Geburt und des Todes, der alles für nichtig erklärt, das Stöhnen des Sieges, der Niederlage und
des unendlichen Schmerzes –, schafft es dieser gedrungene Wicht, der Vogelfänger, der Freund aller Spieler, der Jäger von Kindern, Whitlow von innen nach außen zu kehren. Nicht nur dessen Herz, sondern auch dessen Innereien: Leber und Lungen, Blut und Gedärme.
Ohne auf das schwache Jammern des zerfallenden Nachtfalters zu achten – Whitlow hat ihm stets als Operationsbasis und Verankerung in der Wirklichkeit gedient –, greift Glaucous durch den widerlichen Nebel hindurch und packt das Mädchen, damit es nicht einfach davonfliegt.
Er hat, so viel er konnte, von dem gewählten Schicksalsstrang zu sich herübergezogen: Es ist eine selbst auferlegte Buße, aber auch ein Spiel. Satz und Match. Es ist die größte Tat, die er jemals vollbracht hat, und auch fast seine letzte. Fast.
Denn der Schicksalsstrang, den er ergriffen und herausgelöst hat, ist kein guter, jedenfalls nicht für ihn. Das weiß er schon, seit er ihn nahe beim Kreuz entdeckt hat.
Er setzt das selbstvergessene Mädchen, das immer noch durch andere Augen sieht, auf dem Eis ab. »Gern geschehen«, murmelt er in die Leere hinein. Danach bekreuzigt er sich – eine alte Gewohnheit
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