Die Stadt am Ende der Zeit
Abschnitte meines Tages verloren. « Er gestand sich höchst ungern ein, dass er krank war. Krank sein hieß, das Fingerspitzengefühl zu verlieren. Bald würde er langsam werden, Runzeln bekommen, mit gebeugtem Rücken gehen, und seine Vorstellungen auf der Straße würden niemanden mehr interessieren. »Hab Aussetzer gehabt«, fügte er hinzu.
»Wie lange?«, fragte Sangloss.
»Wie lange die Aussetzer gedauert haben, meinen Sie?«
»Nein. Wie lange geht das schon so, dass Sie Abschnitte Ihres Tages verlieren?«
»Zwei Monate.«
»Und Sie sind wie alt? Fünfundzwanzig? Sechsundzwanzig?« Sie blätterte eine Seite des Krankenblatts um, das in einem Klemmbrett steckte. Er fragte sich, wie sie es angestellt hatte, sich so viele Notizen zu seinem Fall zu machen.
»Vierundzwanzig.«
»Viel zu alt. Hören Sie sofort damit auf.«
»Zu alt für was?«
Sehen Sie sich doch an: Sie sehen teuflisch gut aus, sind dazu noch stark und agil. Fit. So jemand wird doch nicht einfach krank. Lebt sein Leben nach eigenen Regeln und wird es stets so halten; man erwartet es auch nicht anders von ihm. Also, raus mit der Wahrheit – was ist mit Ihnen los?
Er konnte fast sehen, wie sich Dr. Sangloss’ Lippen bewegten, um ihm das zu sagen, aber sie hatte es natürlich gar nicht laut ausgesprochen. Das alles lag in dem langen Blick, mit dem sie ihn bedachte. Sie seufzte kurz und schaute auf das Klemmbrett. »Erzählen Sie mir von Ihren Erlebnissen. «
»Wahrscheinlich ist es gar nichts Besonderes. Ich habe Aussetzer, manchmal nur wenige Minuten, manchmal eine ganze Stunde. Zwei- oder dreimal am Tag. Es kann auch eine Woche lang gutgehen, bis es wieder passiert. Letzte Woche war ich einmal einen ganzen Nachmittag weggetreten und bin mit dem Fahrrad völlig mechanisch herumgefahren. Bin bei den Ladedocks gelandet.«
»Und Sie haben sich dabei kein blaues Auge geholt?«
Jack schüttelte den Kopf.
»Sind bei Ihnen in letzter Zeit seelische Schockzustände, Fehleinschätzungen, seltsame Verhaltensweisen oder Halluzinationen aufgetreten?«
Er verneinte abermals.
»Sind Sie sich da auch sicher?«
Er blickte auf das gerahmte Plakat neben der Anschlagtafel an der gegenüberliegenden Wand – die kunstvolle anatomische Darstellung eines männlichen Profils, das in zwei Hälften gespalten war. Irgendwie fiel ihm dabei ein, wie er sich beigebracht hatte, Tischtennisbälle und kleine Orangen zu schlucken und wieder auszuspucken. »Es ist eine Art Traum. Ein Ort mit einer besonderen Stimmung.«
»Haben Sie vor oder nach diesen Episoden irgendwelche Gerüche, Geräusche oder einen bestimmten Geschmack im Mund gespürt?«
»Nein. Na ja, hin und wieder. Einen schlechten Geschmack.«
»Im Wesentlichen war’s also nur der Nachhall eines Traums, an den Sie sich nicht mehr erinnern konnten?«
»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht!«, setzte er wegen ihres skeptischen Blicks nach.
»Und es waren keine Drogen im Spiel? Zum Beispiel Marihuana? «
Das verneinte er nachdrücklich. »So was würde mich beim Jonglieren bremsen.«
»Ah ja, klar.« Sie inspizierte seine linke Hand, spreizte deren Finger und starrte neugierig auf die Schwielen. »Ist in Ihrer Familie mal Epilepsie vorgekommen? Schlafsucht? Schizophrenie?«
»Nein, ich glaube nicht. Allerdings weiß ich nicht viel über die Familie mütterlicherseits. Meine Mutter starb, als ich fünfzehn war.«
»War Ihr Vater Kettenraucher?«
»Nein. Er war gut beieinander, fast schon dick. Wollte immer gern als Bühnenkomiker auftreten.« Jack zwinkerte ihr zu.
Sangloss tat es mit einer Geste ab. »Wir sollten weitere Untersuchungen durchführen. Sie sind nicht krankenversichert, oder?«
»Nein.«
»Und auch nicht Mitglied einer Gewerkschaft von Straßenkünstlern? Oder in der Gewerkschaft der Teamsters?«
Jack lächelte nur.
»Vielleicht können wir für Sie eine kostenlose Behandlung im Medizinischen Zentrum Harborview ausmachen. Würden Sie dort hingehen, wenn ich es arrangiere?«
Er sah sie unsicher an. »Was für eine Behandlung? So was wie ’ne Biopsie?«
»Magnetresonanztomografie. Ein Scan des Gehirns. Petit-Mal-Anfälle treten normalerweise nur bei Kindern auf, diese Art Epilepsie verschwindet mit der Pubertät. Kinder können jeden Tag Dutzende solcher kleinen Anfälle haben, manchmal sogar Hunderte, allerdings dauern sie selten länger als ein paar Sekunden. Aber Ihre Symptome passen nicht zu diesem Krankheitsbild. Schlafsucht, möglich – entspricht jedoch auch nicht Ihren
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