Die Stadt am Ende der Zeit
armen Jungen erschrecken. Lass mich wissen, was die anderen meinen.«
13
Wallingford
Die Wohnzimmerfenster waren mit Plastik verhüllt. Irgendjemand, vielleicht der ursprüngliche Besitzer, musste schon vor Jahren versucht haben, die Fenster zu ersetzen, und hatte wohl irgendwann aufgegeben. Holzlatten und Gips waren aus den Wänden herausgerissen; in Papier gewickelte alte, zerfetzte
Kabel lagen in Knäueln herum. Das Dach war leck. Das Wasser hatte den Holzfußboden verzogen, war in den Keller durchgesickert und hatte ihn überflutet.
Offenbar stand das Haus schon so lange leer, dass schließlich ein obdachloser Bettler sich den Weg hineingebahnt und in der trostlosen Umgebung eingerichtet hatte – ohne Heizung und Strom. Fließendes Wasser gab es noch, für den Gärtner, der längst nicht mehr kam. Der Bettler hatte nur ein paar alte Möbelstücke und eine Matratze ins Haus gebracht, wahrscheinlich nachts mit großer Mühe hineingeschmuggelt.
Als Daniel zum ersten Mal seit Tagen aufstehen konnte, ohne gleich würgend zu husten, durchkämmte er nochmals das ganze Haus.
Und diesmal …
In einem Hohlraum unmittelbar hinter dem Waschbecken in der oberen Toilette fand er einen verschnürten Karton. Als er die Schnur durchschnitt und den Inhalt ausleerte, fiel eine abgenutzte Brieftasche auf die zersprungenen Bodenfliesen. Hinter einem vergilbten Plastikfenster war ein Führerschein zu erkennen. Das Foto bestätigte, dass dieser Körper früher einmal einem Mann namens Charles Granger gehört hatte, der bei Ausstellung des Dokuments zweiunddreißig Jahre alt gewesen war. Nach weiterem Schütteln flogen einige Blätter Schreibmaschinenpapier, ein schwarzer Marker und ein stumpfer Bleistift aus dem Karton. Als Letztes fiel ein kleines, kompaktes Kästchen heraus, das mit Klebestreifen am Boden befestigt gewesen war – und er erkannte, dass es genau das war, wonach er die ganze Zeit gesucht hatte.
Sein Integralläufer. Der Stein, der nur gelegentlich zu sehen war.
Das gleiche Kästchen, das gleiche Siegel als Flachrelief in den Deckel eingraviert: ein Kreis, in dem sich miteinander verschränkte Bänder oder Schleifen um ein Kreuz wanden. Wie war das möglich? Eine weitere Verbindung zwischen Daniel und Charles Granger. Er machte keinen Versuch, das Kästchen zu öffnen – noch nicht. Mit leisem Pfeifen steckte er es in die Hosentasche und blätterte die Papiere durch. Unverständliche Kritzeleien, seltsame Symbole, eine schreckliche, dennoch in gewisser Hinsicht vertraute Handschrift.
Allzu ähnlich. Sehr unheimlich.
Wo war Granger jetzt, der frühere Besitzer dieses Wracks von einem Körper? Verschwunden, zur Seite gedrängt, aus dem Nest gestoßen? Lediglich ein weiteres Opfer. Und was war mit all den anderen Fäden, mit all diesen Weltlinien, die er durchkreuzt haben musste, mit all diesen unzähligen, eng verknüpften Schicksalen, die zwischen Daniel Patrick Iremonk und dem Hier und Jetzt lagen?
An diesem Schicksalsfaden hängt kein Daniel. Nur jemand, der im alten Haus von Daniels Tante wohnt und sich Dinge mit seltsamen Symbolen notiert …
Er kommt noch am nächsten an Daniel heran; ich konnte keinen finden, der besser geeignet war. Nur ist er nicht ICH. Wieso?
Das Kästchen ist die entscheidende Verbindung. Ist auch Charles Granger ein Wanderer zwischen den Welten gewesen? Charles Granger war am Ende seines Schicksalsfadens angelangt. Das Kästchen weiß es. Es hat dich hierhergeführt.
Er schob die Blätter zusammen, verstaute sie wieder im Karton und verschloss ihn.
Draußen frischte der Wind auf.
Als Daniel sich aufrichtete, knackten und knirschten seine Gelenke. Irgendetwas stimmte hier nicht, war nicht vollendet. Zwar hatte er das Kästchen gefunden – ein Kästchen –, aber Daniel Iremonk hatte seinen Integralläufer nie in einem Pappkarton aufbewahrt, das war zu auffällig.
Er hatte ihn hinter dem Steinkamin versteckt.
Als Daniel die Steine abtastete, stieß er an der Sockelleiste auf einen lockeren Ziegel. Er ruckte ihn hin und her, zog ihn heraus, kniete sich mit verzerrtem Gesicht hin und langte in den Hohlraum.
Und fand ein zweites Kästchen .
Als leitete ihn ein Instinkt, stellte er beide Kästchen nebeneinander: Sie sahen völlig gleich aus. Nachdem er ihren trickreichen Verschluss geöffnet hatte, sah er, dass beide Steine in ihren Samtvertiefungen lagen und in dieselbe Richtung wiesen. Er holte sie heraus, nahm sie in die Hände und inspizierte ihre abweisenden rötlichen
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