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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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er die Asche über Knochen- und Fleischreste.
    Doch weder die Spinne noch das Gedicht waren damit aus der Welt geschafft. Jemand hatte die Zeilen mit fast unmerklichen Abweichungen auf Pergamentfetzen, Holz und sogar Tonscherben kopiert – keiner wusste, wie oft – und diese Abschriften in den Mauerspalten der Abtei und anderswo versteckt. Immer wieder tauchten auf der Insel solche Kopien in alten Gebäuden und Wohnhäusern auf, was erst mit der Invasion der Wikinger ein Ende fand. Doch noch vor deren Ankunft war auf die Manuskripte aus dem
Kloster Iona kaum mehr Verlass, und schließlich stellten die Kopisten dort die Arbeit ein. Alle neueren Abschriften wurden entweder verbrannt oder unter Schloss und Riegel gehalten, denn niemand konnte ausschließen, dass womöglich alle Abschriften, von der ersten Kopie bis zur letzten, Fehler enthielten. Schließlich überforderte es auch die gründlichsten Leser unter den Mönchen, sich vollständig an diesen Wust von Seiten zu erinnern. Bald darauf schloss die Abtei, und die wertvollsten und schönsten Bücher wurden an andere Stätten verlagert.
    Niemand wusste, was das Gedicht bedeutete. Doch jahrelang behaupteten die Gelehrten, die Spinne und die Fehler in den Manuskripten würden für immer verschwinden, sobald die Zeilen entschlüsselt wären.
    Wer waren die »drei«, und was war diese »trostlose Asche«, in der sie lebten? Und von welcher seltsamen Apokalypse war hier die Rede, wenn dabei lediglich fünf Tote aus ihren Gräbern auferstanden? (So interpretierte man inzwischen den Schluss des Gedichts, denn in manchen Versionen endete es mit der Zeile: »Fünf Tote werden zum Leben erweckt. «)
    Und warum machte man ein solches Getue um das Gedicht? Wozu all das Geraune, all diese Gerüchte, all die verzweifelten Versuche, sich durch die Beichte der eigenen Sünden zu entledigen?
    Schließlich war es doch nur ein winziges, wenn auch hartnäckiges Geschöpf mit acht Beinen gewesen, das in den Abschriften herumgespukt hatte. Außerdem hatte es ja keinen Menschen gebissen oder auf andere Weise verletzt. Und bestimmt hatten sich diese Manuskripte, die im Laufe der
Jahrhunderte durch so viele Hände gegangen, in so vielen Ländern kopiert und in andere Sprachen übertragen worden waren, bereits in der Antike weit von ihrem Original entfernt. Abschriften hatte man ja selbst in den Ländern der Sarazenen angefertigt, und dort waren Fehler zweifellos eher die Regel als eine Ausnahme.
    Auch weiterhin behaupteten manche Sturköpfe, die man getrost als Ketzer bezeichnen kann, die Spinne sei eine Gottesdienerin und weise mit ihren Beinen lediglich auf angemessene Korrekturen hin. Sie stütze sich dabei auf Erinnerungen an Fehler, die sie schon vor langer Zeit bemerkt habe.
    Doch warum hätte Gott ein derart widerwärtiges Geschöpf mit einer solchen Aufgabe betrauen sollen? Niemals hätte er dergleichen getan.
    Mit finsterem Blick klappte Ginny das Büchlein zu. Jetzt reichte es ihr. Sie hatte Bidewell und seine Spinnereien gründlich satt.
    Sie verdrängte die Angst vor dem Draußen, hob die Stahlstangen an, löste die Verriegelung und schob das Tor zur Laderampe auf. Die Nachtluft war feucht und kühl und roch schwach nach Abgasen. Nach achtzehn Uhr herrschte hier stets nur wenig Verkehr. Schon vor Stunden hatte es aufgehört zu regnen; jetzt hatte sich der in der Abenddämmerung immer noch helle Himmel aufgeklart und leuchtete tiefblau.
    Ginny trat auf die Rampe und starrte mit ausgehungertem, dankbarem Blick nach oben, als könne sie so den ganzen Himmel in sich aufnehmen und bei sich behalten. Und nirgendwo ein Buch in Sicht!
    Sie musterte die Schatten auf dem kleinen leeren Parkplatz. Niemand da, der sie beobachtete. Immer noch unsicher, was sie unternehmen sollte, ging sie mit den steifen Schritten einer Marionette die Rampe hinunter auf das offene Tor zu und drehte dabei immer wieder den Kopf, um nach oben oder auf das Lagerhaus in ihrem Rücken zu blicken.
    Nur noch ein paar Schritte, ein paar Meter …
    Es war an der Zeit, sich auf ihre frühere Stärke und Entschlusskraft zu besinnen und das zu tun, wofür sie geschaffen war. Inzwischen hatte sie alles Vertrauen zu ihrer ursprünglichen Gabe verloren, auch mit Krisensituationen fertig zu werden. Wieso war sie hier überhaupt gelandet? Wegen der Klinik, wegen der Ärztin … Sie konnte nicht klar denken, da es in ihren Ohren so laut summte und ihr Herz so heftig klopfte, als wolle es aus der Brust springen.
    Die geben

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