Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
an der dunklen Außenwand auf und sprang in die Luft, um nach etwas zu schnappen, das so groß wie einer von Bidewells Federkästen war und vergeblich zu flüchten versuchte.
    Mit dumpfem Aufschlag landeten Katze und Beute hinter den Kisten auf dem Boden. Zwangsläufig würde auf den Sieg der Katze die Ablieferung der Beute folgen. Und auf die Ablieferung Bidewells Lob und die Belohung des tapferen Jägers, ein kleiner Imbiss. Das war das Abkommen zwischen Katze und Mann, Mann und Katze. Bidewell stand auf, um die Schachtel mit dem Trockenfutter zu holen, die er hoch oben in einem Regal aufbewahrte, weit entfernt von den Bücherkisten. Diese Lektion hatte er mühsam gelernt, nachdem er mehrmals Katzenkotze hatte aufwischen müssen. Minimus mochte in mancher Hinsicht zwar durchaus feinsinnig sein, doch er genoss es, sich zu überfressen. Allerdings verspeiste er niemals die Mäuse, die er fing, oder sonstige Beutetiere.
    Nach einigen Minuten setzte Bidewell sich an den kleinen Schreibtisch, der leichter Lektüre in schlaflosen Nächten vorbehalten war, und knipste die alte Messinglampe an. Hier hatte er eine kompakte Ausgabe von Samuel Butlers Werk »The Way
of all Flesh« liegen, das ihm wegen Butlers zynischer Kritik des Profanen zusagte. Das zerlesene Buch umfasste selbstverständlich auch die zwei abschließenden Kapitel, die in keiner anderen Ausgabe zu finden waren.
    Gerade hatte Bidewell Platz genommen, da tapste Minimus aus der Dunkelheit ins Helle und sprang auf den Schreibtisch. Im Maul hatte er ein Geschöpf, das wie ein Edelstein funkelte. Der Alte holte tief Luft und schob den Stuhl zurück, während die Katze ihn von der Seite ansah, die Beute fallen ließ und sich niederkauerte.
    Das Geschöpf – eine Art Insekt, obwohl mehr als fünfundzwanzig Zentimeter lang und mit viel zu vielen Beinen ausgestattet – war vor Schreck erstarrt. Jetzt streckte es vorsichtig den langen Körper, erbebte und zauberte ein paar glänzende Flügel hervor, die die Farbe von poliertem dunklem Eichenholz hatten. Seine Flügel waren von Natur aus gezeichnet, mit einem einzelnen elfenbeinfarbenen Ornament, das wie ein Symbol wirkte. Oder wie ein Buchstabe irgendeines Bidewell nicht bekannten Alphabets. Wie eine Zikade legte es den großen Kopf schräg, während in den Facettenaugen etwas strahlend Blaues aufblitzte.
    Minimus hatte das Insekt zwar nicht sichtbar verletzt, doch es konnte sich nur mit Mühe bewegen. Trotz seiner Notlage sanftmütig, sammelte es genügend Kraft, um bis zum Tischrand zu kriechen, wo es wie ein intelligentes Spielzeug liegen blieb, den Kopf erneut neigte und zirpte.
    Unter den scharfen Blicken von Mensch und Katze drehte es sich um und kroch auf eine Reihe von Federkästen aus Buchsbaum zu, die mit großen ägyptischen Hieroglyphen verziert waren.
    Minimus leckte sich die Pfote.
    Das Insekt kroch zum Kasten, der ihm am nächsten war, ließ sich zischend daneben nieder, wobei seine Körperhaltung Einverständnis und Zufriedenheit ausdrückte, und rührte sich nicht mehr.
    Das Insekt war tot.
    Danach verlor die Katze das Interesse an ihrer Beute und sprang auf den Boden.
    Verblüfft fuhr Bidewell das elfenbeinfarbene Zeichen mit dem knochigen Zeigefinger nach. »Stammt aus keiner mir bekannten Epoche«, murmelte er.
    Seine Texte, Hunderttausende von Schriften, fungierten als eine Art Linse, bündelten das kaum Glaubliche und holten aus einer nicht unbedingt sehr fernen Vergangenheit Dinge in die Gegenwart, die erst glaubhaft werden würden, wenn ihre Zeit sich erfüllte. Doch jetzt löste sich diese Zeit auf, zerfiel in Einzelteile. Auf bestürzende Weise vermischten sich Geschichte und Geschichten miteinander oder prallten einfach aufeinander.
    Falls niemand etwas dagegen unternahm, würde die Zukunft in die Gegenwart einsickern, wie Milch aus einer zersprungenen Flasche.
    Vielleicht würde ihr spärlicher Vorrat an Zeit schon innerhalb von Tagen oder Wochen verzehrt sein. Und danach würde das Chaos über sie hereinbrechen, wahre Alpträume und sich endlos wiederholende Schleifen – die letzten verblüffenden, unvorhersehbaren Überreste trügerischer Chancen und Hoffnungen.
    Terminus. Die Endstation.
    Vielleicht befand er sich jetzt schon in einer solchen Zeitschleife. Allerdings sprach das Auftauchen des Mädchens – der
eigensinnigen jungen Frau, die ihm mürrisch Gesellschaft geleistet hatte – gegen diese Annahme. Nach wie vor gab es eine Möglichkeit, eine Chance, das Unvermeidliche

Weitere Kostenlose Bücher